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1Der Impuls Jesu1Wer von uns hat sich das noch nie gewünscht: Frei zu sein, wie die Vögel des Himmels und unbeschwert wie die Lilien des Feldes (vgl. Mt 6,25–33/ Lk 12,22–31)? Jesus von Nazaret hat das offensichtlich nicht nur in seinen Gleichnissen geschafft. In ostentativer Weise setzt er sich scheinbar über Reinheitsvorschriften und moralische Engstände hinweg. Er duldet Zöllner und Huren in seinem Gefolge, berührt Aussätzige und vergibt den Sündern. Aber verschleudert Jesus das Erbarmen Gottes nicht, wenn er so großzügig ist? Müssen wir Jesus nicht zeihen, eschatologische Schunkelstimmung zu verbreiten frei nach dem Motto: „Wir kommen alle, alle in den Himmel, weil wir so brav sind“2? Die „anständigen“ Menschen bezeichnen Jesus als einen „Fresser und Säufer“, einen „Freund der Zöllner und Sünder“ (Mt 11,19 // Lk 7,34). Manch strenger Pharisäer nahm Anstoß an der Praxis Jesu, etwa der Pharisäer Simon in Lk 7,39, angesichts der Sünderin, die Jesus die Füße salbt. Andererseits berichtet aber gerade Lk davon, dass etliche Pharisäer Jesus wohlwollend gegenüberstanden und ihn sogar vor Herodes warnten (Lk 13,31). Die Apg zeichnet auch Pharisäer als Teile der Jerusalemer Urgemeinde (Apg 15,5). Die Motive Jesu sind also sicherlich nicht religiösem Laxismus geschuldet. Ganz im Gegenteil: Er radikalisiert die Botschaft des Täufers dahingehend, dass er den Anbruch des Gottesreiches nicht nur in naher Zukunft erwartet, sondern schon unmittelbar präsent setzt.3 Etliche Exeget*innen sehen im Wort Jesu: „Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen“ (Lk 10,18) ein visionäres Berufungserlebnis,4 das Jesus in der Wüste, wohl in seiner Zeit als Schüler des Täufers,5 hatte. Gemäß frühjüdischer Vorstellung befand sich die irdische Welt unter der Herrschaft des Satans,6 der als der „Herrscher dieser Welt“ gesehen wurde (Joh 12,31; 16,11; vgl. Mt 4,8f. // Lk 4,5f.). Wenn das Königreich Gottes nicht nur im Himmel, sondern auch auf dieser Erde anbrechen sollte, musste zuvor die Herrschaft des Bösen über diese Welt aufgehoben und alle Unreinheit auf Erden getilgt werden. So etwa heißt es im frühjüdischen Buch der Jubiläen (50,5–9): Wenn „Israel gereinigt ist von aller Sünde […] wenn es keinen Satan mehr gibt noch irgendetwas Böses“, dann wird dies „ein Tag des heiligen Königreiches für ganz Israel sein“. Den Kampf gegen Satan und Unreinheit führte die Gemeinschaft in Qumran – eine stramm konservative Gruppierung des damaligen Judentums – durch strikten Exklusivismus. Zurückgezogen in die Wüste vermieden sie jeglichen Kontakt mit allem, was ihnen kultisch oder moralisch unrein erschien. Sie verstanden sich als eine kleine Gemeinde von „Reinen“, die in ihrer splendid isolation die „gerechte“ – oder sollte man sagen „selbstgerechte“ – Vernichtung der „Unreinen“ (also aller anderen) erwartete. Einen anderen Weg gingen die Pharisäer. Als jüdische Erneuerungsbewegung hatten sie die kultischen Reinheitsvorschriften der Tempelpriester „demokratisiert“: „Der Tisch im Haus eines jeden Juden ist wie der Tisch des Herrn im Jerusalemer Tempel.“7 Daher achteten sie peinlich genau auf die Einhaltung aller religiösen Vorschriften auch im täglichen Lebensalltag, um den Anbruch der Königsherrschaft Gottes zu ermöglichen. Die notwendige Reinigung von Sünden erwartete auch Johannes der Täufer, der Lehrer Jesu: Das kommende Feuergericht werde alle Unreinheit ausbrennen und so das Kommen Gottes ermöglichen. Für ihn allerdings ist die Reinheit der Menschen auch an soziale Gerechtigkeit gebunden: „Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle ebenso“ lautet die Täuferpredigt in der Darstellung des Lukas (Lk 3,11).8 Jesus geht allerdings noch einen Schritt weiter:9 Die visionäre Erfahrung Jesu, dass der Satan bereits gestürzt ist, bedeutet für ihn einen Paradigmenwechsel und die Initialzündung seiner eigenen Theologie: Gemäß frühjüdischen Vorstellungen erwartete man für die Endzeit die Wiederherstellung der prälapsarischen Unversehrtheit des Menschen. Gott würde in der Endzeit das Heil der Menschen aus der paradiesischen Urzeit, der prälapsarischen Zeit vor dem Sündenfall, restituieren. Die Urzeit-Endzeit-Analogie ist für das Frühjudentum reichlich belegt, die Eschatologie wird von der Protologie, der Anfangszeit, her gedeutet: Die Endzeit würde die paradiesische Heiligkeit und Unversehrtheit der Menschheit wiederherstellen.10 Da die Macht des Satans für Jesus bereits jetzt gebrochen und die Königsherrschaft Gottes damit schon im Anbrechen befindlich ist (vgl. Lk 11,20), sieht sich Jesus ermächtigt, dem Gottesvolk die Restitution der endzeitlichen Heiligkeit und Unversehrtheit als bereits gegenwärtig zuzusprechen. Diese theologische Neubewertung führt Jesus nun dazu, niemanden vom gottgeschenkten Heil auszuschließen. Jesu Zuwendung zu den Sündern nebst Vergebung ihrer Sünden, seine Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen, aber auch seine zeichenhaften Festmähler11 (als Vorwegnahme des endzeitlichen Festmahls nach Jes 25,6) werden für ihn zum prophetischen Realsymbol der bereits angebrochenen Königsherrschaft Gottes – sie werden zum sinnfälligen Zeichen, ja zum „Sakrament“ des Heiles:12 „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euch gekommen“ (Lk 11,20).Das Brechen der „Macht des Satans“ ist für moderne Menschen eine sonderbare Vorstellung, umreißt aber keine religiös-moralisch verengte Perspektive, sondern meint in mythologischer Sprechweise, dass jegliches Leid, das dem Menschen in physischer, psychischer und religiös-seelischer Weise zustoßen könnte, nun aufgehoben ist. So heißt es in der Endzeiterwartung der frühjüdischen Schrift Assumptio Mosis (10,1),13 die zeitgleich mit dem Wirken Jesu entstanden ist: „Und dann wird seine [Gottes] Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen, und dann wird der Teufel nicht mehr sein, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweggenommen sein.“ Befreiung vom „Satan“ oder „Teufel“ meint hier in mythologischer Sprache die Erlösung von aller Traurigkeit und allem Leid, das Menschen physisch, psychisch und seelisch widerfahren kann, so wie es in Offb 21 über die Erlösung der Menschen in der Endzeit heißt:1 Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen […] 2 Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. 3 Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. 4 Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. 5 Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, neu mache ich alles.In der Brechung der Satansmacht geht es Jesus daher nicht nur um die Restitution seelisch-moralischer Heiligkeit, sondern um eine Wiederherstellung der gesamtmenschlichen Integrität in leiblicher, seelischer, psychischer und sozialer Hinsicht: „Blinde sehen wieder, Lahme gehen und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird die frohe Botschaft verkündet“ (Lk 7,22 // Mt 11,5).14 Wesentlich für Jesus ist dabei die Zuwendung zu den Armen, Marginalisierten, Sündern und Gescheiterten: „Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen“ (Lk 6,20f. // Mt 5,3–11). Bei seinen bewusst zeichenhaften, emblematischen Festmählern pflegt Jesus auch ausdrücklich Gemeinschaft mit Sündern (Mk 2,15 parr; Lk 7,39; 15,2; 19,5). Er tut dies nicht, weil er die Sünde nicht sieht oder verharmlost, sondern er sieht darin ein realprophetisches Sakrament der nun angebrochenen Heilszeit: Nicht der Mensch muss mit seiner Heiligkeit das Kommen der Gottesherrschaft vorbereiten, sondern Gott selbst schafft proaktiv mit dem Sturz Satans die Ausdehnung seiner heilsstiftenden Gegenwart vom Himmel auf die Erde. So heißt es schon im Vaterunser in Mt 6,10: „dein Reich komme […] wie im Himmel, so auf der Erde“. Dieser Raum des Heiles ermöglicht Versöhnung mit Gott, aber auch untereinander: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Damit vertritt Jesus die Grundhaltung einer proaktiven Heiligkeit und ansteckenden Reinheit und stellt somit das vorherrschende Deutemuster von „rein“ und „unrein“ auf den Kopf: Nicht Unreinheit steckt an, sondern die Reinheit des kommenden Gottesreichs durchdringt alles und nimmt Unreinheit, Krankheit, Sünde und Leid hinweg.15 Wie ein kleines Stück Sauerteig das ganze Mehl durchdringt (Lk 13,21 // Mt 13,33), so durchsäuert das Gottesreich nun die ganze Welt mit seiner ansteckenden Kraft. Jesus, als Bote des Gottesreichs, ist daher bemüht, die Sünder, Aussätzigen und Kranken auch zu berühren – und so mit der Reinheit der Königsherrschaft Gottes „anzustecken“. Dies ist aber nicht als magischer Akt misszuverstehen – nicht mechanistische Berührung ist heilswirksam, sondern die lebendige Begegnung mit Jesus als „Aktanten“ der Gottesherrschaft, der damit selbst zum Instrument seiner Botschaft wird und mit seiner Botschaft verschmilzt. Solch eine Identifikation von Bote und Botschaft ist übrigens auch schon für die atl Propheten belegt – und nicht erst eine nachösterliche Projektion. Wenn etwa Hosea eine Hure zur Frau nimmt, um damit auf die Unreinheit des Gottesvolkes zu verweisen (Hos 1,2–9), dann handelt er damit nach Art eines atl ʾot, einer prophetischen „Zeichenhandlung“:16 Mit solchen „Zeichenhandlungen“ riefen die Propheten – gleich modernen Aktionskünstlern – eine bestehende Wirklichkeit in Erinnerung oder nahmen ein noch nicht eingetroffenes, aber unmittelbar bevorstehendes Ereignis symbolisch vorweg.17 In den Zeichenhandlungen von Krankenheilungen, Dämonenaustreibungen, Sündenvergebungen und zeichenhaften Festmählern präfiguriert Jesus den Heilsanbruch der im Kommen begriffenen Königsherrschaft Gottes. Hier haben die Sakramente der späteren Kirche ihren eigentlichen Haftpunkt als sinnfällige Realsymbole des vermittelten Heils. Schon vor Tod und Auferstehung Jesu sind sie realprophetische Zeichen des irdischen Jesus, der die heilsstiftende Zuwendung Gottes zu den Armen, Verletzten, Ausgegrenzten und Gescheiterten verdeutlicht. Die Rückfrage nach einer vorösterlichen „Christologie“ schon beim historischen Jesus findet hier einen Haftpunkt.Das letzte Abendmahl ist dann nur die logische Weiterführung dessen, was Jesus bereits zuvor getan hat, nämlich in seinen Festmählern die unverbrüchliche Zuversicht auf das Kommen des Reiches Gottes zu verdeutlichen: Die Mahlgemeinschaft wird zum Zeichen des umfassenden Heiles und der geglückten Kommunikation zwischen Gott und den Menschen sowie der Menschen untereinander. Doch Jesu Anspruch wird von den Menschen nur zögerlich angenommen. Angesichts seiner provokativ zugespitzten Tempelaktion (zumeist nicht korrekt als „Tempelreinigung“ bezeichnet) versuchen ihn die Hohepriester aus dem Weg zu räumen. Im Angesicht seines zu erwartenden Todes18 ergreift er nun nicht die Flucht, sondern feiert ein zeichenhaftes Festmahl als Ausdruck seiner Erwartung, dass das Königreich Gottes trotz seines möglichen Scheiterns anbrechen werde. Wahrscheinlich sah Jesus seinen bevorstehenden Tod als eine Art Erprobung durch Gott – er selbst müsste nun einlösen, was er zuvor den Menschen gepredigt hat: Glauben zu haben, wider jede Wahrscheinlichkeit! In den Zeichen des zerrissenen Brotfladens und des blutroten Weins deutet er seinen gewaltsamen Tod, der aber den Weg zum Gottesreich ebnen werde: „Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von Neuem davon trinke im Reich Gottes“ (Mk 14,25). Wahrscheinlich sah Jesus in der Verweigerung der Menschen eine letzte Bewährungsprobe, die ihm von Gott abverlangt wurde: Er, als Aktant des Gottesreiches, müsse nun unter Einsatz des eigenen Lebens den Glauben an den Anbruch der Königsherrschaft Gottes weitertragen. Auch wenn niemand mehr an das Kommen des Gottesreichs glaubt, so würde doch er stellvertretend für alle anderen diesen Glauben nicht aufgeben und auch sein eigenes Leben dafür in die Waagschale werfen. Diese Art der Stellvertretung („Proexistenz“19) konnte nach der Auferstehung als stellvertretendes Sühneleiden gedeutet werden, wie Paulus das in Röm 3,25 tut und die Synoptiker in der Adaptation der Gottesknechtslieder (Mk 9,12; Mt 8,17; Lk 24,46; Apg 3,18; 17,3). Haftpunkt im Leben des irdischen Jesus ist allerdings sein Wissen, dass die Macht von Sünde, Leid und Tod durch Gott gebrochen ist. Diese Erfahrung ist schon vorösterlich bei Jesus zur Gewissheit geworden, wird aber durch die Auferstehung von Gott her bestätigt und zur Initialzündung nachösterlicher Christologie. Man wird der heilsgeschichtlichen Dramatik Jesu nicht gerecht, wenn man all dies in den aktuellen Fragen nach einer Reform unserer Kirche nicht mitbedenkt.2Ansätze für eine Erneuerung der KircheDie soeben geschilderte ipsissima intentio Jesu wird in den Dokumenten des Zweiten Vaticanums20 erstaunlich gut abgebildet. So heißt es in Gaudium et Spes (GS) 13: „Der Herr selbst aber ist gekommen, um den Menschen zu befreien und zu stärken, indem er ihn innerlich erneuerte und ‚den Fürsten dieser Welt‘ (Joh 12,31) hinauswarf, der ihn in der Knechtschaft der Sünde festhielt.“ Mit diesen Worten wird klar, dass es nicht das Verdienst des Menschen ist, nicht eine moralische Leistung, die zuvor erbracht werden müsste, die diese Rechtfertigung bewirkt, wie Paulus (Röm 4,16; 11,6) oder Mt 21,31 und Lk 18,10–14 betonen. Eine Diastase zwischen Gottes Gerechtigkeit und Gottes Barmherzigkeit gibt es nach Jesus (und Paulus) nicht. Wäre Gott unerbittlich gerecht, hätte kein Mensch vor ihm Bestand, da alle ausnahmslos Sünder sind! Gottes Richten und seine Gerechtigkeit sind immer eine iustificatio impii – kein Zugrunde-Richten, sondern ein Auf-Richten von Sündern und Gebrochenen. Auch die Barmherzigkeit Gottes wird in Lumen Gentium (LG) 40 herausgestellt: „Da wir aber in vielem alle fehlen (vgl. Jak 3,2), bedürfen wir auch ständig der Barmherzigkeit Gottes […]“, oder um es mit GS 3 zu sagen: „Dabei bestimmt die Kirche kein irdischer Machtwille, sondern nur dies eine: unter Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um […] zu retten, nicht zu richten […]“. Wer vermeint, mit dem Kirchenrecht das Erbarmen Gottes „reglementieren“ zu müssen, hat von Jesu Botschaft nichts verstanden. So schreibt Papst Franziskus in seinem nachsynodalen Schreiben Amoris Laetitia 311 (AL, 19.3.2016)21 treffsicher:Die Lehre der Moraltheologie darf nicht aufhören, diese Betrachtungen in sich aufzunehmen, denn obschon es zutrifft, dass auf die unverkürzte Vollständigkeit der Morallehre der Kirche zu achten ist, muss man besondere Achtsamkeit darauf verwenden, die höchsten und zentralsten Werte des Evangeliums hervorzuheben und zu ihnen zu ermutigen, speziell den Primat der Liebe als Antwort auf die ungeschuldete Initiative der Liebe Gottes. Manchmal fällt es uns schwer, der bedingungslosen Liebe in der Seelsorge Raum zu geben. Wir stellen der Barmherzigkeit so viele Bedingungen, dass wir sie gleichsam aushöhlen und sie um ihren konkreten Sinn und ihre reale Bedeutung bringen, und das ist die übelste Weise, das Evangelium zu verflüssigen. Es ist zum Beispiel wahr, dass die Barmherzigkeit die Gerechtigkeit und die Wahrheit nicht ausschließt, vor allem aber müssen wir erklären, dass die Barmherzigkeit die Fülle der Gerechtigkeit und die leuchtendste Bekundung der Wahrheit Gottes ist.Dieser Text hat die ipsissima intentio Jesu perfekt übernommen. Der „Weg der Barmherzigkeit“, wie ihn Papst Franziskus in Amoris Laetitia seiner Theologie zugrunde legt, hat in reformunwilligen Kirchenkreisen für Kritik gesorgt. Diese entzündet sich besonders an der Möglichkeit, wiederverheiratet Geschiedene unter bestimmten Umständen zu den Sakramenten zuzulassen.22 Solche Positionen wären „zweifelhaft“23 – so einige Kardinäle, die ihre dubia („Zweifel“) dem Dokument gegenüber zum Ausdruck brachten. Ja, der Papst habe sich in Amoris Laetitia gar der „Häresie“ schuldig gemacht, wie von den Unterzeichnern einer „Correctio Filialis De Haeresibus Propagatis“24 beteuert wird. Solche Statements weigern sich zu verstehen, dass der Papst das ureigenste Selbstverständnis Jesu mit diesem Impuls aufgreift und damit die Grundgedanken des Zweiten Vatikanischen Konzils weiterführt.Ähnliche Ängste tun sich derzeit auch in der Beurteilung des Synodalen Weges in Deutschland auf. Im Schreiben des Vorsitzenden der Polnischen Bischofskonferenz Erzbischof Gadecki an die Deutsche Bischofskonferenz heißt es: „Eine der Versuchungen in der Kirche besteht heute darin, die Lehre Jesu ständig mit den aktuellen Entwicklungen in der Psychologie und den Sozialwissenschaften zu konfrontieren.“25 Im Schreiben der Nordischen Bischofkonferenz an die DBK hingegen wird gewarnt, dass wahre Reformen der Kirche nicht „dem Zeitgeist nachzugehen“26 haben. Tatsächlich ist die Vorstellung eines „Lehramts des Zeitgeists“ keine gute Idee. Allzu oft hat sich dieser geirrt und ist auch ausgesprochen ephemer. Allerdings betont schon GS 52, dass für das Heil von Ehe und Familie nicht nur die „weise Erfahrung theologischer Fachleute“ von großem Nutzen ist, sondern auch „die Fachleute in den Wissenschaften, besonders in Biologie, Medizin, Sozialwissenschaften und Psychologie […] dem Wohl von Ehe und Familie und dem Frieden des Gewissens sehr dienen“.27 Hier eröffnet das Konzil eine neue Perspektive, die im Dialog mit den modernen Humanwissenschaften eine à jour gehaltene Theologie ermöglicht. Dies hat gerade im Zusammenhang mit den Diskussionen um den deutschen Synodalen Weg zu Ängsten geführt. So befürchtet der Regensburger Bischof Voderholzer, „dass das Lehramt der Bischöfe durch das Lehramt einer rationalistischen deutschen Universitätstheologie abgelöst wird“, und dass „dem bischöflichen Lehramt seine Bedeutung als Auslegungsinstanz und das Recht und die Pflicht bestritten [wird], seine Auslegungsvollmacht im Namen der Kirche wahrzunehmen, wenn Theologen die Schrift gegen das Glaubensbekenntnis und die Kirche interpretieren.“28 Auslöser der Diskussion war die vom Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf vorgebrachte These, es habe vor Papst Pius IX. ein „doppeltes Lehramt“ von Bischöfen und Theologen gegeben.29 Martin Rhonheimer hat die Kritik des Regensburger Bischofs weitergeführt und in der Mai-Nummer 2022 der Herder Korrespondenz dem Synodalpräsidium vorgeworfen, in seinem im Februar verabschiedeten Orientierungstext30 diese These von einem „doppelten Lehramt“ aufgegriffen zu haben.31 Das allerdings ist nicht der Fall. Der Begriff „Lehramt“ kommt im gesamten Dokument lediglich den Bischöfen zu. Die im Orientierungstext § 55 jedoch geforderte Offenheit, dass das bischöfliche Lehramt auch „die Rezeption geistes- und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse“ ermöglichen soll und „im Dialog mit zeitgenössischem Denken neue Wege des Glaubens zu eröffnen und den Menschen ihrer Zeit den Glauben an Gott verstehbar nahezubringen“ hat, ist auch durch die kirchliche Lehre bestens begründet.32 So etwa betont schon die 1893 promulgierte Enzyklika Providentissimus Deus von Papst Leo XIII. die Wichtigkeit der Bibelwissenschaft mit den Worten, ut quasi praeparato studio, iudicium Ecclesiae maturetur, „damit durch das getätigte Studium [sc. der Bibelwissenschaft] das Urteil der Kirche reifen kann“.33 Fünfzig Jahre später unterstreicht Papst Pius XII. 1943 in der Enzylika Divino Afflante Spiritu: „[…] der Exeget muß […] mit Hilfe der Geschichte, der Archäologie, der Ethnologie und anderer Wissenschaften (ut subsidiis historiae, archaeologiae, ethnologiae aliarumque disciplinarum) genau bestimmen, welche literarischen Arten (litteraria […] genera) die Schriftsteller jener alten Zeiten anwenden wollten […]“ (§ 398)34. Dabei soll der „katholische Exeget“ auch „den gesicherten Ergebnissen der Profanwissenschaften gebührend Rechnung“ tragen (§ 403). Sodann folgert der Pontifex: „Die Bemühungen dieser tüchtigen Arbeiter im Weinberg des Herrn soll man nicht nur mit Billigkeit und Gerechtigkeit, sondern auch mit Liebe beurteilen. Dieser Pflicht mögen alle anderen Söhne der Kirche [sc.: und wohl auch Töchter der Kirche] eingedenk sein und sich von jenem wenig klugen Eifer freihalten, der da meint, alles, was neu ist, schon deshalb, weil es neu ist, bekämpfen oder verdächtigen zu müssen“ (§ 403). Auch wenn das Lehramt die Letztentscheidung in Glaubensfragen behält, so ist diese Vorgehensweise keineswegs monopolar, sondern bipolar, da das Urteil der Fachwissenschaften als verbindlich zugrunde gelegt wird. Die Vorstellung eines fortschreitenden Erkenntnisgewinns der Bibelwissenschaften sowie die Annahme von zeitgeschichtlich bedingten Darstellungsweisen biblischer Texte und die Notwendigkeit einer Aktualisierung auf die heutige Zeit hin wird dann in der Konzilsdeklaration Dei Verbum 1965 bindend festgeschrieben (besonders § 12). DV 8 schreibt: „[E]s wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lk 2,19.51) […]“. Indem das Zweite Vaticanum der Vorstellung eines sensus fidei, eines untrüglichen Glaubenssinnes aller Gläubigen, Ausdruck verleiht, wird die Bipolarität der Auslegungskompetenz hier zu einer Tripolarität geweitet. Das Lehramt kooperiert mit dem Urteil der Fachwissenschaften und folgt den Impulsen des gesamten Volkes Gottes. Den letzten Ausdruck dieser Entwicklung setzte das Dokument Die Interpretation der Bibel in der Kirche,35 eine Studie der Päpstlichen Bibelkommission, die 1993 im Auftrag von Papst Johannes Paul II. auf Initiative des damaligen Kardinals Joseph Ratzinger erstellt wurde. Darin wird unterstrichen, dass zwar die „Aufgabe, das geschriebene oder überlieferte Wort verbindlich zu erklären nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut ist“, doch das Lehramt dazu angehalten ist, „die Theologen, die Exegeten und andere Experten, deren legitime Forschungsfreiheit es anerkennt und mit denen es in wechselseitiger Beziehung steht“ zu konsultieren.36 Damit ist zwar kein „doppeltes Lehramt“ gegeben, aber sehr wohl eine Verpflichtung für das Lehramt, die berechtigten Erkenntnisse der Bibel- und Humanwissenschaften ernst zu nehmen und in eine kontinuierliche Erneuerung der Lehre einzuarbeiten. Wie dieser Austausch in vermehrter und hoffentlich bald auch in institutionalisiert festgeschriebener Weise stattfinden könnte (etwa bei der Abfassung von päpstlichen Lehrschreiben), wäre Gegenstand zukünftiger Überlegungen. Es steht zu hoffen, dass hier der von Papst Franziskus begonnene synodale Prozess weitere Klärungen ermöglichen wird.3DesiderateDer unverschämte Optimismus Jesu ist uns heute leider verloren gegangen. Die Vorstellung, dass nicht die Unreinheit ansteckt, sondern die Reinheit Gottes alles durchdringt und heilt, könnte allerdings auch heute noch dazu beitragen, dass kirchlicherseits Berührungsängste mit vermeintlich „unreinen“, fremdartigen oder – aus welchen Gründen auch immer – bedrohlich empfundenen Szenarien ablegt werden. Tatsächlich habe ich nämlich nicht den Eindruck, dass – wie oft behauptet – der Glaube in unserer Gesellschaft verdunstet ist, sondern eher das Gottvertrauen von uns kirchlichen Funktionären. Mein erst 23-jähriger Studienassistent Christoph Belitsch hat mir erzählt, wie intensiv seine Alterskolleg*innen auf Sinnsuche sind. Bei der katholischen Kirche allerdings suchen die meisten nicht mehr, vielleicht, weil wir selbst nicht mehr an die unverschämte Freiheit glauben, die Gott uns als Morgengabe schon bei der Erschaffung der Welt in die Wiege gelegt hat (vgl. Gen 2,15–20).Ja, es stimmt, in der Frage nach einer synodalen Kirche geht es zunächst nicht um Strukturen, sondern primär um die Lebendigkeit unseres Glaubens. Doch gerade diese unverschämte Freiheit, von Gott angenommen zu sein, wird durch eine Fülle von Vorschriften, Ängstlichkeiten und Bedachtnahmen empfindlich getrübt. Somit schlagen die als eng und realitätsfremd empfundenen kirchlichen Strukturen massiv auf die Freude am Glauben durch. Wenn Jesus seinen Gegnern sagt: „Neuer Wein [gehört] in neue Schläuche“, dann spricht er nicht nur über den Wein, sondern auch über dessen äußeres Behältnis, also über Strukturen. Und Lk fügt hinzu: „Und niemand, der alten Wein trinkt, will jungen; denn er sagt: Der alte ist bekömmlich“ (Lk 5,39). Das zeichnet den dritten Evangelisten nicht nur als profunden Weinkenner aus, sondern auch als Wissenden um menschliche Schwerfälligkeit. Die Angst vor Veränderung lässt uns lieber in den Untergang laufen, als mutig nach neuen Formen für den neuen und lebendigen Wein Jesu zu suchen. Auch gemäß dem Zweiten Vaticanum ist die Kirche keine abgeriegelte Burg, die dem Beschuss der modernen Zeit trotzt, sondern eine „pilgernden Kirche“ (LG 50, vgl. auch 48 und 49), die gerne bereit ist, von den Menschen zu lernen, statt immer nur zu belehren und Antworten auf Fragen zu geben, die niemand gestellt hat. Kirche ist damit kein statisches Gebäude, das seine theologia perennis rein und unveränderlich vor der Verunreinigung durch die gottfeindliche Welt bewahrt. Solchen Tendenzen tritt Papst Franziskus in AL 308 entgegen:Ich verstehe diejenigen, die eine unerbittlichere Pastoral vorziehen, die keinen Anlass zu irgendeiner Verwirrung gibt. Doch ich glaube ehrlich, dass Jesus Christus eine Kirche möchte, die achtsam ist gegenüber dem Guten, das der Heilige Geist inmitten der Schwachheit und Hinfälligkeit verbreitet, […] auch wenn sie Gefahr läuft, sich mit dem Schlamm der Straße zu beschmutzen. Die Hirten, die ihren Gläubigen das volle Ideal des Evangeliums und der Lehre der Kirche nahelegen, müssen ihnen auch helfen, die Logik des Mitgefühls mit den Schwachen anzunehmen und Verfolgungen oder allzu harte und ungeduldige Urteile zu vermeiden. Das Evangelium selbst verlangt von uns, weder zu richten, noch zu verurteilen. (vgl. Mt 7,1; Lk 6,37)Keine Angst zu haben, „sich mit dem Schlamm der Straße zu beschmutzen“, korrespondiert mit der Haltung Jesu, die Tischgemeinschaft von Sündern und Huren zu suchen. Die Vorstellung, dass nicht die Unreinheit, sondern die Heiligkeit des Gottesreiches ansteckend ist, kommt einer kopernikanischen Wende der Pastoral gleich: Wenn Kirche als Ganze wirklich das Grundsakrament des Heils sein möchte, dann muss sie die Nähe von Sündern, Gebrochenen und Verletzten suchen. Kirche ist nicht die Gemeinschaft der Heiligen, da wir uns von aller Sünde freihielten, sondern da Gott – der einzig Heilige – uns Sündern Erbarmen gewährt. Daher, so AL 291, „muss die Kirche ihre schwächsten Kinder, die unter verletzter und verlorener Liebe leiden, aufmerksam und fürsorglich begleiten und ihnen Vertrauen und Hoffnung geben […] Vergessen wir nicht, dass die Aufgabe der Kirche oftmals der eines Feldlazaretts gleicht“.37 Diese Bereitschaft, sich auf die konkrete Welt einzulassen, ist dabei keineswegs eine Anpassung oder Anbiederung an den Zeitgeist, sondern eine notwendige Akzeptanz der Realität. Nach Mt 16,3 hält Jesus den Pharisäern vor, die „Zeichen dieser Zeit“ nicht erkennen zu wollen. Auch in den Ansprachen von Papst Franziskus begegnet der Ausdruck „Pharisäer“ häufig.38 So warnt Franziskus in der Audienz vom 13. April 2016 davor, ähnlich wie die Pharisäer nur eine Kirche der Makellosen akzeptieren zu wollen.39 Pharisäer waren auch zur Zeit Jesu keine perfiden Heuchler, wie sie die spätere christliche Polemik leider allzu oft verzeichnet hat. Sie waren vielmehr eine innerjüdische Reformbewegung, getragen von besonderem Eifer. Doch manche verkennen in ihrem „Eifer“ die wahre conditio humana. So wird auch von reformunwilligen Kreisen der Kirche die Vielschichtigkeit menschlichen Lebens in all seinen Ausprägungen reduktionistisch auf ein bestimmtes Menschenbild hin enggeführt, gleich ob das in puncto Mitspracherecht von Laien in der Kirche, Einführung synodal-demokratischer Strukturen oder der Sexualmoral der Fall sein mag. Der alte Grundsatz der Dogmatik quod non assumptum – non sanatum40 (was nicht angenommen ist, ist auch nicht geheilt) ist zugleich ein Satz der modernen Psychotherapie41 und sollte uns davor bewahren, in eine Scheinrealität zu flüchten, die im Widerspruch zu den modernen Wissenschaften die Kirche zum Rezeptakulum verschrobener vormoderner Weltsichten macht. Will Kirche – in der Nachfolge ihres Erlösers als Ursakrament – das Grundsakrament darstellen,42 muss sie – genauso wie Jesus – die gesamte Welt in ihrer ganzen Buntheit akzeptieren ohne irgendjemanden auszugrenzen.Oft frage ich mich, was die katholische Kirche denn eigentlich zu verlieren hat – außer ihrer eigenen Angst. Sollte eine Glaubensgemeinschaft mit 2000 Jahren Erfahrung, eine Organisation, die als Global Player die ganze Welt verbindet, nicht über solch kleinlichen Ängste erhaben sein? Immer wieder erinnert mich die heutige Situation der Kirche an die Jünger im Sturm am See von Genezareth, die voll Verzweiflung Jesus wecken, der im Heck des Bootes seelenruhig schläft. Jesus aber tadelt die Jünger: „Warum seid ihr so ängstlich? Habt ihr immer noch keinen Glauben?“ Vielleicht verschleudern nicht diejenigen, die Reformen wollen, das „Familiensilber“ der kirchlichen Tradition, sondern diejenigen, die sich weigern, mit dem Pfund der Gnade Gottes zu „wuchern“ (wie es in der Übersetzung von M. Luther im Gleichnis von den anvertrauten Talenten so schön heißt).43 Vielleicht ist es daher gar nicht ein Beweis von Glaubenstreue, wenn man sich kategorisch Reformen verschließt, sondern ein Zeichen von mangelndem Gottvertrauen. Dazu fällt mir ein Wort ein, das Christoph Kardinal Schönborn bei seinem 25-jährigen Bischofsjubiläum in seiner Predigt sagte (als Antwort auf jene, die ihm vorgeworfen haben, er wäre im Laufe der Zeit immer „progressiver“ geworden): „[…] wenn du fest im Glauben stehst, dann kannst du ein weites Herz haben; dann kannst du weite Brücken bauen, wenn du feste Pfeiler hast. […] ich wünsche Euch […], fest im Glauben zu stehen und ein weites, weites Herz zu haben. Annähernd so weit wie das Herz Jesu.“44 Diesem Wort möchte ich mich dankbar anschließen. Hoffen möchte ich allerdings auch, dass dieses weite Herz nicht nur in imo pectore, im Innersten unseres Brustkorbes, verborgen bleibt, sondern auch gestaltend, verändernd und begeisternd in unseren kirchlichen Strukturen schlägt.
Biblische Zeitschrift – Brill
Published: Jan 23, 2023
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