Get 20M+ Full-Text Papers For Less Than $1.50/day. Start a 14-Day Trial for You or Your Team.

Learn More →

Inklusionsanspruch und Schulwirklichkeit

Inklusionsanspruch und Schulwirklichkeit Huschke Kleinteich reports on his work at a primar y school. Over several years he assisted t wo students with mental developmental delays. In his contribution  she points out on the one hand that school inclu- sion with a simultaneous continuance of the established regular pedagogy    and on condition of a lack of resources  leads to the  persistence  of exclusion experiences for those concerned; on the other hand, he outlines which problems the structure of an independent  organization  can bring with it concerning the working conditions of employees. Kleinteichs work experiences led to the founding of the  initiative kritische schulassistenz. Title Inclusion and Realit y in Schools – Attempt to Critically Interpret My Work Experience as a School Assis- tent Key words pedagogy, education, inclusion, disabilit y assistance, school assistance Vier Jahre lang arbeitete ich als Schulbegleiter an verschiedenen Schulen in Altneus- tadt . Angestellt war ich bei einem für Inklusion engagierten Verein. Dass ich mit der Arbeit anfing, damals noch als Nebenjob neben dem Studium, hatte außer dem profa - nen Grund, Geld zu brauchen, auch mit Sympathie für die Arbeitsaufgabe zu tun. In- tensiv mit eine*r Schüler*in zu arbeiten und nicht der Schule, sondern einem aus der Behindertenbewegung hervorgegangenen Verein als Arbeitgeber verpf lichtet zu sein, davon erhof f te ich mir die Möglichkeit einer pädagogischen Arbeit, in der es weniger darum geht, institutionelle Ansprüche des bestehenden Systems Schule durchzuset- 1 Deutsche Großstadt, Name von der Redaktion geändert. Corresponding author: Huschke Kleinteich; kritischeschulassistenz@posteo.de Open Access. © Huschke Kleinteich 2022, published by transcript Verlag This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 (BY ) license 2022 64 Hus chke K leinteich zen als vielmehr darum, den individuellen Bedürfnissen der begleiteten Schüler*in gerecht zu werden. Ihrer politischen Definition nach steht die Schulbegleitung im Dienst des Bil - dungsreformprojektes Inklusion. Als Sofort-Maßnahme soll sie die Teilnahme von Schüler*innen mit Behinderung am Regelschulsystem ermöglichen, langfristig die Veränderung dieses Systems, den Abbau seiner strukturellen Selektivitäten unter- stützen. Die Schulbegleitung wird je nach Bundesland und kommunal unterschied- lich organisiert. In Altneustadt befindet sie sich in freier Trägerschaf t. Die Konstruk - tion der freien Trägerschaf t sieht eine Doppelstruktur vor. Während der Staat sich rechtlich verpf lichtet hat, Schüler*innen mit Behinderung eine Schulbegleitung fi - nanziell zu ermöglichen, überlässt er es nicht-staatlichen Organisationen die Schulbe- gleitung konkret zu organisieren. Das Ideal dieser Doppelstruktur könnte man darin sehen, dass sie eine Gestaltung der Schulbegleitung durch solche zivilgesellschaf tli- chen Akteure ermöglichen soll, die den Bedürfnissen der betrof fenen Schüler*innen möglichst nah und dem gesellschaf tspolitischen Projekt der Inklusion möglichst eng verbunden sind. Nimmt man das Ideal der freien Trägerschaf t ernst, so soll sie die Realisierung des zum Programm staatlicher Bildungspolitik erhobenen Antidiskrimi- nierungsanspruchs dadurch absichern, dass sie vermittelt über die Schulbegleitung jenen zivilgesellschaf tlichen Organisationen Kontrolle und Beeinf lussung der Schul- entwicklung ermöglicht, die die gesellschaf tliche Anerkennung dieses Antidiskrimi- nierungsanspruchs geschichtlich erkämpf t haben. Pointiert man den programmatischen Anspruch, der mit der Arbeitsaufgabe der Schulbegleiter*in und der freien Trägerschaf t verbunden ist, so ließe er sich auf die Formel von bedürfnisgerechter Pädagogik und Anwaltschaf t bringen. Die Schulbe- gleiter*in soll zwischen den Regelschulanforderungen und den Bedürfnissen und Fä- higkeiten der begleiteten Schüler*in vermitteln, die Trägerorganisation der begleite- ten Schüler*in den Rücken stärken, indem sie im Namen von Antidiskriminierung in die Schulpraxis intervenieren kann. Wenn ich an meine Arbeitserfahrungen zurückdenke, dann erscheint darin der programmatische Anspruch der Schulbegleitung merkwürdig verkehrt. Statt im Dienst der Schüler*innenbedürfnisse und einer inklusiven Schulentwicklung zu ste- hen, wurde in Wirklichkeit an meine Arbeit vor allem der Anspruch gestellt, den rei- bungslosen Fortbestand einer nicht-inklusiven Unterrichtsform zu gewährleisten. Statt im Sinne von Anwaltschaf t und zivilgesellschaf tlicher Kontrolle eine inklusive Schulentwicklung mitzugestalten, wurde die freie Trägerschaf t im Falle des Vereins, für den ich arbeitete, zum Instrument städtischer Sparpolitik. Die Erfahrung dieser Anspruchsverkehrung versuche ich im Folgenden darzustellen. Zunächst im Hinblick auf die Schulpraxis (I): Was wurde in meiner Praxis als Schulbegleiter aus dem Anspruch einer bedürfnisgerechten Pädagogik? Welche Be- harrungskräf te des Systems Schule wirkten diesem Anspruch entgegen? Dann im Hinblick auf den Verein (II): Was wurde in der Praxis des Vereins aus dem Anspruch einer zivilgesellschaf tlichen Mitgestaltung der Schulentwicklung? Welche Strukturprobleme der freien Trägerschaf t wirkten diesem Anspruch entgegen? Schließlich soll es in einem Ausblick (III) darum gehen, wie einige Kolleg*innen und ich vor diesem Erfahrungshintergrund versuchten, mit der Gründung der initiati- ve kr it ische schulassistenz die Widersprüche zwischen faktischer Praxis und Anspruch der Inklusionsnorm zu politisieren. Ink lusions anspr uch und S chul wir k lichkeit 65 I Schulpraxis Anspruch und Wirklichkeit – Schule Den Großteil, zwei Jahre, meiner Zeit als Schulassistent begleitete ich Lukas und Amal an einer Grundschule. Die Schule lag am Stadtrand. Neben Wohnhochhäusern gab es dort auch Einfamilienhäuser mit Garten. Es gab sowohl Akademikerfamilien, die die Randlage wegen der Nähe zum Stadtwald schätzten, als auch Familien, die es sich nicht aussuchen konnten und wegen der verhältnismäßig günstigen Mieten die Wohnhochhäuser bewohnten. Sehr unterschiedlich waren die Voraussetzungen, mit denen die Schüler*innen in die Schule kamen. Einige konnten bereits vor Schulbeginn den gesamten Schulstof f der ersten Klasse, andere konnten kaum Deutsch. Die Klas- sen bestanden aus über zwanzig Schüler*innen, die von jeweils eine*r Lehrer*in un- terrichtet wurden. Die vorherrschende Unterrichtsmethode war Frontalunterricht un- terbrochen von Stillarbeit und Wissensabfragen zum Zweck des Leistungsvergleichs (die Auf teilung auf unterschiedliche Schulformen nach der vierten Klasse stand schon am Horizont). Während die Akademikerkinder zumeist richtig zu antworten wuss- ten, und den Anderen als Vorbild anempfohlen wurden, erfuhren die meisten Anderen von Seiten der Schule die Abwertung, schwer von Begrif f zu sein. Während der mit- tels Frontalunterrichts und Notenvergabe organisierte Leistungsvergleich den meis- ten Akademikerkindern ermöglichte, Zutrauen in ihre Fähigkeiten und ein positives Verhältnis zum Lernen zu entwickeln, reagierten viele Andere, um ihren Selbstwert zu schützen, auf die Kränkung ihrerseits sehr früh schon mit Abwendung von Schul- dingen. Lukas und Amal, die beiden Schüler, denen meine Tätigkeit als Schulbegleiter galt, waren nicht die Einzigen, deren Bedürfnissen und Fähigkeiten der Unterricht nicht gerecht wurde. Nur war dies bei ihnen in besonders extremer Weise der Fall. Lukas und Amal war ein Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung diagnos- tiziert. Sie lernten langsamer als gleichaltrige Kinder. Mit zunehmender Schuldauer vergrößerte sich der Abstand ihres Wissensstandes zum Normallehrplan, nach dem die Klasse unterrichtet wurde. In der dritten Klasse, meinem letzten Schuljahr an der Schule, addierten sie im Zahlenbereich von eins bis zwanzig, während der Normal- lehrplan Multiplikation und Division im Zahlenbereich von hundert vorsah, lernten das Zusammenziehen von Silben zu Wörtern, während der Normallehrplan das Le- sen eines ersten Buches vorsah. Als Schulbegleiter Teilnahme am Normalunterricht zu ermöglichen, hätte unter diesen Umständen bedeutet, Lukas und Amal zum passiven Absitzen zu disziplinieren. Die Alternative bestand darin, mit den beiden jenseits der Klasse in Sonderräumen Sondermaterialien zu bearbeiten. Dies war die Praxis von Inklusion: An der Grundschule blieb es, wie es vermutlich schon vor dem Auf tauchen von Lukas und Amal und bevor sich die Schule Inklusion auf die Fahnen geschrieben hatte, gewesen war. Der Schulalltag von Lukas und Amal bestand als Parallelprogramm zum Normalunterricht. Es konstituierte sich das Frag- ment einer Sonderschule innerhalb der Normalschule. Lukas und Amal hatten ihre Sondermaterialien, ihren Sonderraum, ihren Schulbegleiter und ihre Förderlehre- rin. Zwar war der Charakter der Förderschule als Sonderinstitution mit isolierter So- 2 Beide Namen sind von der Redaktion zu Maskierungszwecken geändert worden. 66 Hus chke K leinteich zialwelt dadurch aufgebrochen, dass es partielle Teilnahme am Sozialleben des Nor- malschulalltags gab, Lukas und Amal die gleiche Schule besuchen konnten wie ihre Nachbar*innen. Im Vergleich zur Förderschule als Sonderinstitution erschien ihr Schulprogramm aber zugleich auch als Sparversion. Es e fi len weg: die bessere Perso - nal-, Raum- und Materialausstattung, die integrierten e Th rapieangebote, der Unter - richt innerhalb einer Klassengemeinschaf t. Was blieb, war die Erfahrung von Diskri- minierung. Zu wesentlich ging es um eine Konkurrenz, in der Lukas und Amal die Grunderfahrung machten, nach allen Leistungskriterien, die an der Schule zählten, die Schlechtesten zu sein oder mehr noch sogar außerhalb der Wertung zu rangieren, symbolisch bei der halbjährigen Zeugnisvergabe verdichtet, wo sie als Einzige keine Noten bekamen. Beharrungskraft der etablierten Schulpraxis als stummer Zwang Der Modus, in dem die an der Schule Tätigen diese Unterrichtsform reproduzierten, war das Durchwursteln. Alle mussten unter den bestehenden Bedingungen erst ein- mal klarkommen. Weniger war die Unterrichtspraxis von pädagogischen Konzepten geleitet. Vielmehr war sie bestimmt durch einige Faustregeln, die von den Erfahre- neren an die Neuanfangenden weitergegeben wurden: Methoden, die sich unter den Bedingungen einer Alleinverantwortung der Lehrer*in für die Groß-Klassen im Sin- ne eines funktionierenden Unterrichts praktisch bewährt hatten. Neben dem Frontal- unterricht war dies vor allem die Lehrer*innenüberlebensweisheit, man müsse »kon- sequent sein«. Gemeint war damit die konsequente Anwendung von Strafandrohung und Strafdurchsetzung, keine Schwäche zeigen, klarmachen, wer am längeren He- bel sitzt, Standpauken halten. Die Kernaufgabe der Lehrer*innen und Basis für al- les Weitere war für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Maßgeblich hing dementsprechend die Anerkennung im Lehrer*innenkollegium davon ab, wie gut jemand seine Klasse »im Grif f« hatte. An das strenge Lehrer*innenregiment herrschte Anpassungsdruck. Studentische Aushilfslehrer*innen, von denen wegen Personalmangels ein erhebli- cher Teil des Unterrichts getragen wurde und Referendar*innen, die es – inspiriert von neuerer pädagogischer e Th orie – vereinzelt anders versuchten, wirkten nicht als Quellen von Erneuerung, sondern galten den Etablierten nur als mahnende Beispiele, dass es nun einmal anders nicht geht. Und wirklich scheiterten sie meist auch an den Schüler*innen. Die Gewohnheit lehrte die Schüler*innen in den weniger autoritären Lehrer*innen nur Repräsentant*innen der Institution zu sehen, die Schwäche zeig- ten und an denen sich deshalb von dieser Institution produzierte Kränkung und Frust rächen ließen. Auch führte die an der Schule etablierte Unterrichtspraxis dazu, dass die Potenziale zur kollektiven Selbstorganisation unentwickelt blieben. Unter Abwe- senheit der Direktive einer autoritären Lehrerinstanz war das Klassenkollektiv meist nicht handlungsfähig. Immer dann, wenn diese Instanz unbesetzt blieb, brach Chaos aus. Lehrer*innen, deren Individualität oder Ausbildung sich an der etablierten Un- terrichtspraxis stießen, scheiterten so zumeist daran, eine innerhalb der gegebenen Bedingungen tragfähige Alternative zu entwickeln und wurden im Lehrer*innenkol- legium schnell als unfähig abgestempelt. Wer klarkommen wollte, musste sich anpas- sen, dies war die Kurzformel für die Beharrungskraf t der etablierten Praxis an der Grundschule. Ink lusions anspr uch und S chul wir k lichkeit 67 In Lukas und Amals Klasse sah dies so aus: Die Klassenlehrerin war von der Aufga- be absorbiert, Arbeitsatmosphäre aufrechtzuerhalten. An mich hatte sie vor allem die Erwartung, sie zu entlasten. Das hieß: Lukas und Amal sollten als zusätzliche Störfak- toren ihres Unterrichts still gestellt werden. Regelmäßige Arbeitsbesprechungen wa- ren in ihrer Arbeitszeit nicht vorgesehen. Die Koordination unserer Zusammenarbeit fand so immer nur in Nebenbei-Gesprächen statt, kurz vor Unterrichtsbeginn, wäh- rend der Pausenaufsicht oder in Stillarbeitsphasen der Klasse. Was wir dabei abspra- chen, war kaum mehr, als dass sie es mir überlasse, Lukas und Amal in oder außerhalb des Klassenraums zu beschäf tigen. Aus ihrer Sicht hinkten Lukas und Amal sowie- so so hof fnungslos weit hinter dem Normallehrplan her, dass es nicht unbedingt dar- auf ankäme, dass die Beiden in dieser Zeit etwas lernten. Hauptsache, sie störten ih- ren Unterricht nicht. Auch die Förderlehrerin, die zeitgleich mit mir angefangen und einige Stunden in der Klasse hatte, merkte schnell, dass ihr (förder-)pädagogischer Ansatz in den Normalunterricht nicht integrierbar war, schon weil es keine Zeit gab, für die Intensität von Absprache, die dafür nötig gewesen wäre. So entwickelte sie ein Sonderprogramm für Lukas und Amal, das die beiden zumeist auch in Sonderräu- men (wahlweise im Schulf lur oder -keller) unter meiner Aufsicht abarbeiten mussten. Dies war der Rahmen, innerhalb dessen sich meine Arbeit abspielte. Auch ich ver- suchte klarzukommen. Neben Überforderung, vielem Frust, der sich seitens Lukas und Amal of t als Verweigerung und Aggression entlud, neben immer wieder dem Ge- fühl krasser Sinnlosigkeit dabei Lukas und Amal in einer Schule zu begleiten, in der sie nur zu stören schienen, versuchte ich zusammen mit der Förderlehrerin und zusam- men mit Lukas und Amal doch auch das Beste aus der Situation zu machen. Nicht nur versuchten wir den Sonderraum so gut wie möglich zu gestalten. Es entwickelte sich auch Vertrauen zwischen der Klassenlehrerin, der Förderlehrerin, Lukas, Amal, ande- ren Schüler*innen und mir, was unsere Kooperation trotz fehlender Zeit zur Abspra- che verbesserte und partiell sogar eine Aufweichung der strikten Trennung von Klas- sen- und »Förder«-Unterricht ermöglichte. Nach dem ersten Schulhalbjahr erkrankten dann kurz nacheinander beide Lehrerinnen schwer und e fi len über Monate hinweg aus. Nach einigen Wochen studentischen Vertretungsunterrichts wechselte die Klas- senleitung. Eine Lehrerin, die im Schulkollegium als besonders bewährt galt, über- nahm. Weil es für die Förderlehrerin keine dauerhaf te Vertretung gab, wurde eine zweite Schulbegleiterin eingestellt. Ich konnte eine Freundin dafür gewinnen. Inmit- ten all der Umbrüche tat es gut, mit einer Vertrauten zusammen zu arbeiten. Vor allem ihrer Energie war es zu verdanken, dass es, trotz aller Widrigkeiten, weiterhin auch Gelingendes gab und Lukas und Amal Lernfortschritte machten. Der Ausschluss aber verstärkte sich unter der neuen Klassenlehrerin noch. Unsere Vorschläge für mehr Teilhabe am Klassenunterricht prallten größtenteils an ihr ab. Selbst so vorsichtige und wenig weitreichende Versuche, wie der einer Sitzordnung mit Gruppentischen, die gegenseitige Hilfe der Schüler*innen ermöglichen sollte, wurden schon nach ei- ner Woche von Seiten der neuen Klassenlehrer*in wieder abgebrochen, mit dem Argu- ment, es würde dadurch zu viel Unruhe in die Klasse gebracht. Die neue Klassenlehrerin war dabei keine erklärte Gegnerin von Inklusion. Über- haupt niemand bestritt das Recht von Lukas und Amal an der Schule zu sein. Die Lo- gik, nach der sie und auch die meisten anderen Lehrer*innen der Schule handelten, war die des Selbsterhalts ihrer gewohnten Praxis. Sie berief sich auf ihre Erfahrung, 68 Hus chke K leinteich ihre Verantwortung für die Klasse, sie müsse den Laden am Laufen halten und kön- ne sich keine Experimente leisten. Die Inklusionsnorm wurde von ihr nicht of fen ab- gelehnt, sondern konservativ uminterpretiert. Ihr Kriterium für gelungene Inklusion war ein möglichst reibungsloses Nebeneinander von Normallehrplan und Sonderpro- gramm für Lukas und Amal. Dazu gehörte auch, dass sie Lukas und Amal hin und wieder in die Klasse zitierte und sie in die Wissensabfrage ihres Frontalunterrichts einbezog. Während sie dabei mit jede*r Schüler*in hart ins Gericht ging, die die an sie gestellte Aufgabe nicht zu lösen wusste, verhalf sie Lukas und Amal mit einer Mi- schung aus Geduld und Souf f lage zu den richtigen Antworten auf ihre viel leichteren Aufgaben und belobigte sie dafür überschwänglich vor der ganzen Klasse. Während es für die Klassenlehrerin selbstverständlich war, dass Lukas und Amal große Teile des Unterrichts außerhalb des Klassenraums verbringen mussten, straf te sie alle Schü- ler*innen ab, die die Ungleichbehandlung thematisierten – das Wort »behindert« war Tabu. Die Praxis der Absonderung wurde von sprachlicher Antidiskriminierung über - blendet und blieb so stumm. Der Verein, für den ich arbeitete, blieb in dieser Schulpraxis abwesend. Regel- mäßige Arbeitsbesprechungen, die es in meiner Anfangszeit noch gab, wurden aus- gesetzt. Die Sozialpädagogin, die von Vereinsseite als Koordinatorin für die Schule zuständig war, antwortete, wenn sie überhaupt ausnahmsweise einmal für mich er- reichbar war, wegen zu vieler anderer Arbeit nur mit Vertröstungen auf meinen Ge- sprächsbedarf. Wie kam das? II Strukturprobleme der freien Trägerschaft Anspruch und Wirklichkeit: Insolvenz des Vereins Der Schulassistenzträger war aus der Behindertenbewegung hervorgegangen. Er wurde in den 1970er Jahren von Menschen mit Behinderung als Verein gegründet. Zu - nächst ging es vor allem um die Organisation einer selbstbestimmten Pf lege. Über den Verein wurden persönliche Assistenzen organisiert. Sie sollten Menschen mit Behin- derung, trotz Pf legebedürf tigkeit ein eigenständiges Wohnen und selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Die selbstorganisierten Assistenzen sollten mit dem Paternalis- mus der zuvor bestehenden Pf legeeinrichtungen brechen. Auch darüber hinaus enga- gierte sich der Verein für die Rechte von Menschen mit Behinderung und setzte sich stadtpolitisch für Teilhabe ein. Es war naheliegend, dass der Verein dann auch die Or - ganisation von Schulbegleitungen übernahm, als diese zunehmend gebraucht wurden. Als ich anfing, hatte der Verein im Schulbereich mehr als hundert Mitarbeiter*innen. Die Geschichte war noch gegenwärtig im Leitbild des Vereins. In den Fortbildungen und von Seiten der beim Verein angestellten Sozialpädagog*innen wurde das Konzept einer auf Selbstbestimmung und Teilhabe zielenden Schulassistenz vermittelt. Geschichtliche Verdienste hatte der Verein nicht nur im Einsatz für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Auch darin, dass er die Schulbegleiter*innen und persönlichen Assistent*innen auf der Grundlage eines Tarifvertrages anstellte, war der Verein Avantgarde. Vorausgegangen war ein Arbeitskampf, den die Mitarbei- ter*innen des Vereins zu Beginn der 2010er Jahre erfolgreich geführt hatten. Vor dem Ink lusions anspr uch und S chul wir k lichkeit 69 Arbeitskampf lagen die Löhne für die Assistent*innen auf einem Niveau, das kaum zum Leben reichte. Viele Mitarbeiter*innen mussten beim Jobcenter aufstocken. Als ich 2016 anfing, war der Verein aber auch schon sehr deutlich in eine Phase der Gefährdung dieser Errungenschaf ten eingetreten. Grund hierfür war eine ökonomi- sche Misere. Der Verein hatte es nach Inkraf ttreten des Tarifvertrages nicht mehr ge- schaf f t, wirtschaf tlich zu arbeiten. Die Geschäf tsführung meldete Eigen-Insolvenz an. Während meiner gesamten Zeit als Mitarbeiter war die Betriebspolitik von Sanie- rungsmaßnahmen bestimmt. In meinen ersten Jahren wurde eine Unternehmensbe- ratung angeheuert. Die Unternehmensberatung analysierte die Betriebswirtschaf t, um dann einen konkreten Vorschlag machen zu können für die Anwendung des Sche- mas: Sanierung auf Kosten der Arbeitsbedingungen der Basismitarbeiter*innen. Über die Unternehmensberatung wurde eine Instanz der neutralen Expertise konstruiert, ihr Sanierungs-Vorschlag (Flexibilisierung der Arbeitszeiten) konnte sich den An- schein sachlicher Notwendigkeit geben. Von Seiten der Geschäf tsführung wurde der Vorschlag so als alternativloses Opfer zum Zweck der Rettung des Ganzen inszeniert. Die gewerkschaf tliche Liste im Betriebsrat, die weiterhin auf einem Erhalt der Ar- beitsbedingungen bestand, wurde als dogmatische Vertreterin egoistischer Partiku- larinteressen hingestellt und überstimmt. Damit war eine erste Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durchgesetzt. Dennoch folgte kurze Zeit später der Verkauf des Betriebs. Zur Übernahme stan- den zwei Interessenten bereit. Ein Altneustädter Träger, der aus der Selbstorganisa- tion von Eltern behinderter Kinder hervorgegangen war und ein in Herbstingen an- sässiges, aber deutschlandweit operierendes, Pf legegroßunternehmen. Den Zuschlag erhielt das Großunternehmen. Die Mitarbeiter*innen wurden lediglich informiert, dem Betriebsrat kam in den Verhandlungen nur eine Beobachterrolle zu, die Ent- scheidungsmacht lag beim Gläubigerausschuss. Hauptgrund der Entscheidung war ein ökonomischer. Das Herbstinger Unternehmen bot an, den Betrieb schon vor den Sommerferien 2019 zu übernehmen, damit auch die Verluste, die in den Wochen ohne laufenden Schulbetrieb eingefahren werden, aus eigenen Mitteln zu tragen. Dem Alt- neustädter Träger fehlte hierzu schlicht das Kapital. Verkauf t wurde die Entscheidung aber idealistisch. Die Geschäf tsführung, für die die Entscheidung nebenbei auch be- deutete, dass sie, anders als bei Übernahme durch den Altneustädter Träger, im Amt bleiben konnte, verkündete: Mit dem Herbstinger Großunternehmen sei die Entschei- dung für jenen Interessenten gefallen, der Idealen und Geschichte des Vereins einfach näherstünde als der Altneustädter Träger. Tatsächlich wurden Name und Selbstverständnis des Vereins auf dem Papier bei- behalten. Auch eine Mitarbeiter*innenversammlung, auf der der Geschäf tsführer des Herbstinger Unternehmens warme Worte für die Belegschaf t fand und eine Übernah- meparty mit opulentem Gratis-Buf fet übertünchten die Linie der neuen Betriebspoli- tik. Gefahren wurde ein einzig an Rentabilität orientierter Kurs. Nicht nur bedeutete dieser Kurs die Einsparung des Fortbildungsprogramms und Reduktion der Arbeits- besprechungen, sondern auch massive Angrif fe auf die tarif lichen Arbeitsbedingun- gen der Basismitarbeiter*innen. Als die erste neue Assistent*in eingestellt wurde, soll- te sie nicht nach geltendem Tarif lohn bezahlt werden, sondern einen Arbeitsvertrag zu schlechteren Bedingungen unterschreiben. Diesem Vorgehen verweigerte der Be- 3 Deutsche Großstadt, Name von der Redaktion geändert. 70 Hus chke K leinteich triebsrat seine Zustimmung. Darauf hin machte die Herbstinger Unternehmenslei- tung in aller Deutlichkeit klar, dass die Schlechterstellung der neuen Mitarbeiter*in- nen für sie nicht verhandelbar war. In Reaktion auf den Widerstand des Betriebsrats, gründete sie einen zweiten Assistenzträger in Altneustadt, einen scheinunabhängigen Betrieb, der den einzigen Zweck hatte, Mitarbeiter*innen jenseits einer Tarif bindung und jenseits betrieblicher Mitbestimmung einstellen zu können. Als kurz nach der Übernahme in der Pf legeabteilung die arbeitgebernahe Liste die Neuwahlen zum Betriebsrat gewann, wurden im Pf legebereich alte und neue Mitar- beiter*innen wieder in einem Betrieb zusammengeführt. Dank des wunschgemäßen Wahlergebnisses konnte die Geschäf tsführung nun dort in Kooperation mit dem neu- en Betriebsrat die Arbeitsbedingungen nach Belieben verschlechtern. In der Schulabteilung hingegen errang die Gewerkschaf tsliste die Mehrheit der Betriebsratssitze. Hier bestand die Strategie der Geschäf tsführung fortan darin, die Betriebsstruktur nach und nach in den scheinunabhängigen Träger ohne Betriebsrat und ohne Tarifvertrag zu überführen, dadurch den von der gewerkschaf tlichen Lis- te geführten Betriebsrat zu entmachten. Ein Einstellungsstopp wurde verhängt, neue oder durch den Abgang bestehender Mitarbeiter*innen freiwerdende Schulbegleitun- gen wurden nur noch über den Scheinbetrieb besetzt. Auf forderungen seitens der Ge- werkschaf t einen neuen Tarifvertrag zu verhandeln, werden bis heute von der Unter- nehmensleitung ignoriert. Die Anzahl der Bestandsmitarbeiter*innen, deren Verträge noch tarifgebunden waren und deren Interessen durch den gewerkschaf tlichen Betriebsrat vertreten wer- den konnten, wurde so permanent reduziert. Durch den Tarifvertrag und den Be- triebsrat waren der Sparpolitik bezogen auf diese Bestandsmitarbeiter*innen zwar Grenzen gesetzt. Dennoch setzte die Geschäf tsführung nicht nur darauf, den alten Betrieb langsam ausbluten zu lassen, sondern auch die Bestandsmitarbeiter*innen so kostengünstig wie möglich zu verwalten. Mit immer wieder neuen Maßnahmen ver- suchte die Geschäf tsführung den Mitarbeiter*innenbestand zu Lasten der Arbeitsbe- dingungen rentabler zu machen. 4 Im Folgenden eine unvollständige Chronik dieser Maßnahmen: Nach einem halben Jahr, im De- zember 2019, wurde allen bestehenden Mitarbeiter*innen die Jahressonderzahlung ver weigert, gleiches wiederholte sich im Dezember des folgenden Jahres. Dies war zwar rechtswidrig. Um den Rechtsbruch zu sanktionieren und die Auszahlung zu erzwingen, musste der Rechtsanspruch auf die Jahressonderzahlung aber von den Mitarbeiter*innen individuell geltend gemacht und angezeig t werden. Von Seiten der Unternehmensführung wurde darauf spekuliert, dass schon genügend Mit- arbeiter*innen die Frist dafür verpassen oder den Gang zum Gericht scheuen würden. Als im Frühjahr 2020 dann die Corona-Pandemie Deutschland erreichte und die Lockdown-Politik eine monatelange Schulschließung zur Folge hatte, versuchte die Geschäf tsführung, die Mitarbeiter*innenlöhne auf 60/67  % (Kurzarbeit) abzusenken, obwohl dies für einen Großteil der Mitarbeiter*innen bedeutet hätte unters Existenzminimum zu fallen. Gleichzeitig versuchte die Geschäf tsführung am Betriebsrat und den an diesen Schulen arbeitenden Mitarbeiter*innen vorbei die vier Schulen, mit dem größten Bestand an Schulbegleitungen, dem neuen Scheinbetrieb zuzuschanzen. Vom alten Schuljahr 19/20 zum neuen Schuljahr 20/21 sollten die bestehenden Einsätze an diesen Schulen den Träger wechseln. Kalkuliert war dies vor allem als Maßnahme, um die Anzahl der Bestandsmitarbeiter*innen weiter zu reduzieren. Die Schulbegleiter*innen in diesen Einsätzen sollten vor die Wahl gestellt werden, ent- weder den Träger wechsel und damit schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren oder aber die Schule, wo sie zumeist lang jährig gearbeitet hatten und die Schüler*in, die ihnen vertraut war, zu ver - lassen. Ink lusions anspr uch und S chul wir k lichkeit 71 Einige dieser Maßnahmen konnten durch Protest des Betriebsrats und der Beleg- schaf t verhindert oder abgemildert werden. Die Grundrichtung der neuen Betriebs- politik aber blieb ungebrochen: die gegenüber den Arbeitsbedingungen und der Qua- lität der Arbeit rücksichtslose Durchsetzung von ökonomischer Rentabilität. All dies unter Beibehaltung von Namen und Selbstverständnis des Vereins. Anspruchsverkehrung – freie Trägerschaft als Outsourcing Die freie Trägerschaf t erschwerte die Konf liktaustragung. Sie wurde von Seiten der Geschäf tsführung und der zuständigen Stadtpolitiker*innen zur gegenseitigen Ver- antwortungsabgabe instrumentalisiert. In den innerbetrieblichen Verhandlungen mit dem Betriebsrat verwies die Geschäf tsführung auf die unzureichenden Mittel von Sei- ten der Stadt, die eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen betriebswirtschaf t- lich erzwingen würden. Sprachen wir als Vertreter*innen der Belegschaf t in der Bürger*innensprechstunde des Sozialausschusses vor, versicherte uns die CDU-Sozi- aldezernentin, dass der Tarifvertrag von Seiten der Stadt ausreichend refinanziert sei und die freie Trägerschaf t eine städtische Einmischung in innerbetriebliche Angele- genheiten verbiete. Hintergründig blieb das ökonomische Interesse daran, den städtischen Haushalts- posten für die Schulbegleitung nicht vergrößern zu wollen. Die städtischen Gelder waren nach dem erfolgreichen Arbeitskampf und dem Abschluss des Tarifvertrages erhöht worden. Dass damit das Limit dessen erreicht war, was die verantwortlichen Stadtpolitiker*innen an Geld für die Schulbegleitung zur Verfügung stellen wollten, zeigte sich schon im stadtpolitischen Umgang mit der Insolvenz. Ihrem Zustandekommen ging voraus, dass die Geschäf tsführung zunächst die volle Auszahlung der vereinbarten Tarif löhne verweigerte. Als sich einige Gewerk- schaf tsmitglieder unter den Mitarbeiter*innen darauf hin die ihnen zustehenden Löhne einklagten, meldete der Verein wegen Zahlungsunfähigkeit Eigen-Insolvenz an. Mit der Insolvenz des Vereins wurde der Konf likt um die Arbeitsbedingungen der Schulbegleitung depolitisiert. Statt eine öf fentliche und für die Belegschaf t transpa- rente Untersuchung über ein eventuelles Missmanagement, den Verbleib und die An- gemessenheit der städtischen Gelder anzuordnen, überließen es die verantwortlichen Stadtpolitiker*innen der Geschäf tsführung des Vereins, einen Sanierungsplan zu entwickeln. Damit war die Stadt aus dem Schneider. Die wirtschaf tlichen Probleme des Vereins wurden in diesem Rahmen rein betriebswirtschaf tlich angegangen. Die Zielstellung des Sanierungsplans war die Wirtschaf tlichkeit des Vereins unter beste- henden Bedingungen. Eine Erhöhung der Finanzen von Seiten der Stadt stand nicht mehr zur Debatte. Gleichzeitig sprang die Arbeitsagentur ein, um die Auszahlung des nun einge- klagten Tarifvertrags an die Mitarbeiter*innen zu gewährleisten. Sie war damit der größte Gläubiger im Gläubigerausschuss. Das heißt die Stimme der Arbeitsagentur, einer öf fentlichen Institution, hatte bei der Entscheidung für die Übernahme durch den Herbstinger Pf legekonzern das größte Gewicht. Politische Kriterien stärker zu gewichten als ökonomische, sogar die gewerkschaf tlich geforderte Übernahme des Vereins in den städtischen Eigenbetrieb wären also durchaus möglich gewesen. Dass davon kein Gebrauch gemacht wurde, wurde von Seiten der verantwortlichen Stadt- politiker*innen als glückliche Fügung inszeniert: Ökonomisches (Übernahme schon 72 Hus chke K leinteich vor den Sommerferien) und politisches (ideelle Nähe zur Tradition des Vereins) Inter- esse würden in der Entscheidung für den Herbstinger Pf legekonzern zusammenfal- len. Auch wenn es seitens des Herbstinger Pf legekonzerns das vage Versprechen gab, die tarif lichen Arbeitsbedingungen beizubehalten, so war mit Blick auf die Konzern- praxis andernorts – der Pf legekonzern operierte an all seinen anderen Standorten ohne Tarifvertrag – doch absehbar, dass sich dies als Lüge erweisen würde. Dass die verantwortlichen Stadtpolitiker*innen nicht nur dennoch die Übernahme durch das Herbstinger Unternehmen zuließen, sondern der Konzern bis heute für seine Umge- hung der tarif lichen Arbeitsbedingungen nicht sanktioniert wurde, zeigt, dass für die Stadtregierung trotz ihres of fiziellen Bekenntnisses zu Inklusion und Tarif treue, das Ziel der Kosteneinsparung vorrangig ist. Ihre Politik deutet auf eine unausgespro- chene Komplizenschaf t hin, die darin liegt, dass die gegenüber Arbeitsbedingungen und Qualität der Schulbegleitung rücksichtslose Konzerngeschäf tsführung die Stadt- regierung zugleich davor bewahrt, den entsprechenden Haushaltsposten zu vergrö- ßern. Dass der Verein dem Namen nach fortbesteht, tatsächlich aber von einem Groß- unternehmen ohne realen Bezug zur Vereinsgeschichte und ohne Verankerung in der städtischen Zivilgesellschaf t betrieben wird, hat den Ef fekt einer Verschleierung. Die Beibehaltung des Vereinsnamens kaschiert gleichermaßen das Prot fi interesse des Herbstinger Pf legekonzerns wie die städtische Sparpolitik. Schon die alte Geschäf tsführung des Vereins suchte nicht den Schulterschluss mit der Belegschaf t und ihrem Kampf für bessere Arbeitsbedingungen. Eine Rolle spiel- te dabei sicherlich auch, dass der Verein sich innerhalb einer Konkurrenz mit anderen freien Trägern bewähren musste, wozu eben auch gehörte, der Stadt möglichst kos- tengünstige Angebote der Schulbegleitung zu machen. Auch dürf te das Handeln der Geschäf tsführung dadurch motiviert gewesen sein, die stadtpolitische Mehrheitsfä- higkeit des Projekts der schulischen Inklusion, die immer wieder durch das Argument der Kosteneinsparung gegenüber dem Förderschulwesen gesichert wird, nicht durch das Einfordern von mehr öf fentlichem Geld zu gefährden. Auch diese Strukturprobleme trugen dazu bei, dass sich der ideelle Anspruch der freien Trägerschaf t im Falle des Altneustädter Vereins in sein Gegenteil verkehrte. Spätestens mit der Übernahme durch den Herbstinger Pf legekonzern wirkt der Ver- ein nicht mehr als zivilgesellschaf tliche Kontrollinstanz einer inklusiven Schulent- wicklung, sondern hat sich umgekehrt an die Funktionserfordernisse des Status quo im Sinne einer möglichst systemkonformen und kostengünstigen Schulbegleitung angepasst. III Politisierung Wie könnte es anders gehen: initiative kritische schulassistenz Wie rauskommen aus dieser verkehrten Welt der freien Trägerschaf t? Wie die indivi- duelle Ohnmacht gegenüber dem Konservatismus der Schulpraxis überwinden? Diese Fragen standen am Anfang der Gründung der init iat ive kr it ische schulassistenz. Mit ihr versuchten einige Kolleg*innen und ich die Grenzen, an die wir als Schulbegleiter*in- nen und Betriebsrät*innen in der Praxis stießen, zu politisieren. Ink lusions anspr uch und S chul wir k lichkeit 73 Derzeit ist die Initiative zunächst einmal ein Forum des of fenen Erfahrungsaus- tausches und soll damit einen Ausweg aus der Vereinzelung im Schulalltag ermögli- chen. Perspektivisch wollen wir mit der Initiative als Schulbegleiter*innen politisch handlungsfähig werden. Unsere wichtigsten e Th men dabei sind die trägerübergrei - fende Durchsetzung tarif licher Arbeitsbedingungen und die konzeptuelle Weiterent- wicklung der Schulbegleitung. Für die Durchsetzung tarif licher Arbeitsbedingungen scheint uns eine stärkere politische Regulierung der freien Trägerschaf t wichtig. Es bräuchte politische Zulas- sungsbedingungen, die verhindern, dass die freie Trägerschaf t zum Einfallstor prot fi - orientierter Sozialunternehmen wird. Zudem sollte es eine staatliche Kontrollinstanz geben, die die Einhaltung tarif licher Arbeitsbedingungen kontrolliert und sanktio- niert. Für ihre konzeptuelle Weiterentwicklung scheint es uns entscheidend, dass die Schulbegleitung nicht mehr einfach nur »Lückenbüßerin« ist – Mittel, um die Lücke billig zu kaschieren, die klaf f t zwischen Inklusionsnorm und bestehendem Schulsys- tem, zwischen Bedürfnissen (nicht nur) der Schüler*innen mit Behinderung und be- stehender Unterrichtspraxis, zwischen Ressourcenbedarf inklusiver Pädagogiken und bestehender Ressourcenausstattung der Regelschule. Neben einer erheblich verbesserten Ressourcenausstattung wäre es vor unseren Erfahrungshintergründen ein wichtiges Nahziel, andere Formen von Kooperation an den Schulen zu etablieren. Gebrochen werden müsste das Einzelkämpfertum. Ge- schaf fen werden und in den Schulalltag integriert sein sollten Kommunikationsräu- me, in denen unter Beteiligung aller an der Schule Tätigen eine kritische Ref lexion der eigenen Praxis ermöglicht wird. Auf diese Weise könnten die Grenzen, an die eine be- dürfnisgerechte Pädagogik im bestehenden Schulsystem stößt, zur Sprache gebracht werden, statt nur als stummer Zwang auf die Einzelnen zu wirken. Dies wäre Vorbe- dingung für eine Schulbegleitung, die nicht Ersatz, sondern Bestandteil der gemein- samen Arbeit an einer anderen Schule sein soll. Der Autor ist Gründungsmitglied der init iat ive kr it ische schulassistenz. http://www.deepdyve.com/assets/images/DeepDyve-Logo-lg.png Außeruniversitäre Aktion. Wissenschaft und Gesellschaft im Gespräch de Gruyter

Inklusionsanspruch und Schulwirklichkeit

Loading next page...
 
/lp/de-gruyter/inklusionsanspruch-und-schulwirklichkeit-jkEMKFCkGc
Publisher
de Gruyter
Copyright
© 2022 by transcript Verlag
eISSN
2750-1949
DOI
10.14361/aua-2022-010106
Publisher site
See Article on Publisher Site

Abstract

Huschke Kleinteich reports on his work at a primar y school. Over several years he assisted t wo students with mental developmental delays. In his contribution  she points out on the one hand that school inclu- sion with a simultaneous continuance of the established regular pedagogy    and on condition of a lack of resources  leads to the  persistence  of exclusion experiences for those concerned; on the other hand, he outlines which problems the structure of an independent  organization  can bring with it concerning the working conditions of employees. Kleinteichs work experiences led to the founding of the  initiative kritische schulassistenz. Title Inclusion and Realit y in Schools – Attempt to Critically Interpret My Work Experience as a School Assis- tent Key words pedagogy, education, inclusion, disabilit y assistance, school assistance Vier Jahre lang arbeitete ich als Schulbegleiter an verschiedenen Schulen in Altneus- tadt . Angestellt war ich bei einem für Inklusion engagierten Verein. Dass ich mit der Arbeit anfing, damals noch als Nebenjob neben dem Studium, hatte außer dem profa - nen Grund, Geld zu brauchen, auch mit Sympathie für die Arbeitsaufgabe zu tun. In- tensiv mit eine*r Schüler*in zu arbeiten und nicht der Schule, sondern einem aus der Behindertenbewegung hervorgegangenen Verein als Arbeitgeber verpf lichtet zu sein, davon erhof f te ich mir die Möglichkeit einer pädagogischen Arbeit, in der es weniger darum geht, institutionelle Ansprüche des bestehenden Systems Schule durchzuset- 1 Deutsche Großstadt, Name von der Redaktion geändert. Corresponding author: Huschke Kleinteich; kritischeschulassistenz@posteo.de Open Access. © Huschke Kleinteich 2022, published by transcript Verlag This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 (BY ) license 2022 64 Hus chke K leinteich zen als vielmehr darum, den individuellen Bedürfnissen der begleiteten Schüler*in gerecht zu werden. Ihrer politischen Definition nach steht die Schulbegleitung im Dienst des Bil - dungsreformprojektes Inklusion. Als Sofort-Maßnahme soll sie die Teilnahme von Schüler*innen mit Behinderung am Regelschulsystem ermöglichen, langfristig die Veränderung dieses Systems, den Abbau seiner strukturellen Selektivitäten unter- stützen. Die Schulbegleitung wird je nach Bundesland und kommunal unterschied- lich organisiert. In Altneustadt befindet sie sich in freier Trägerschaf t. Die Konstruk - tion der freien Trägerschaf t sieht eine Doppelstruktur vor. Während der Staat sich rechtlich verpf lichtet hat, Schüler*innen mit Behinderung eine Schulbegleitung fi - nanziell zu ermöglichen, überlässt er es nicht-staatlichen Organisationen die Schulbe- gleitung konkret zu organisieren. Das Ideal dieser Doppelstruktur könnte man darin sehen, dass sie eine Gestaltung der Schulbegleitung durch solche zivilgesellschaf tli- chen Akteure ermöglichen soll, die den Bedürfnissen der betrof fenen Schüler*innen möglichst nah und dem gesellschaf tspolitischen Projekt der Inklusion möglichst eng verbunden sind. Nimmt man das Ideal der freien Trägerschaf t ernst, so soll sie die Realisierung des zum Programm staatlicher Bildungspolitik erhobenen Antidiskrimi- nierungsanspruchs dadurch absichern, dass sie vermittelt über die Schulbegleitung jenen zivilgesellschaf tlichen Organisationen Kontrolle und Beeinf lussung der Schul- entwicklung ermöglicht, die die gesellschaf tliche Anerkennung dieses Antidiskrimi- nierungsanspruchs geschichtlich erkämpf t haben. Pointiert man den programmatischen Anspruch, der mit der Arbeitsaufgabe der Schulbegleiter*in und der freien Trägerschaf t verbunden ist, so ließe er sich auf die Formel von bedürfnisgerechter Pädagogik und Anwaltschaf t bringen. Die Schulbe- gleiter*in soll zwischen den Regelschulanforderungen und den Bedürfnissen und Fä- higkeiten der begleiteten Schüler*in vermitteln, die Trägerorganisation der begleite- ten Schüler*in den Rücken stärken, indem sie im Namen von Antidiskriminierung in die Schulpraxis intervenieren kann. Wenn ich an meine Arbeitserfahrungen zurückdenke, dann erscheint darin der programmatische Anspruch der Schulbegleitung merkwürdig verkehrt. Statt im Dienst der Schüler*innenbedürfnisse und einer inklusiven Schulentwicklung zu ste- hen, wurde in Wirklichkeit an meine Arbeit vor allem der Anspruch gestellt, den rei- bungslosen Fortbestand einer nicht-inklusiven Unterrichtsform zu gewährleisten. Statt im Sinne von Anwaltschaf t und zivilgesellschaf tlicher Kontrolle eine inklusive Schulentwicklung mitzugestalten, wurde die freie Trägerschaf t im Falle des Vereins, für den ich arbeitete, zum Instrument städtischer Sparpolitik. Die Erfahrung dieser Anspruchsverkehrung versuche ich im Folgenden darzustellen. Zunächst im Hinblick auf die Schulpraxis (I): Was wurde in meiner Praxis als Schulbegleiter aus dem Anspruch einer bedürfnisgerechten Pädagogik? Welche Be- harrungskräf te des Systems Schule wirkten diesem Anspruch entgegen? Dann im Hinblick auf den Verein (II): Was wurde in der Praxis des Vereins aus dem Anspruch einer zivilgesellschaf tlichen Mitgestaltung der Schulentwicklung? Welche Strukturprobleme der freien Trägerschaf t wirkten diesem Anspruch entgegen? Schließlich soll es in einem Ausblick (III) darum gehen, wie einige Kolleg*innen und ich vor diesem Erfahrungshintergrund versuchten, mit der Gründung der initiati- ve kr it ische schulassistenz die Widersprüche zwischen faktischer Praxis und Anspruch der Inklusionsnorm zu politisieren. Ink lusions anspr uch und S chul wir k lichkeit 65 I Schulpraxis Anspruch und Wirklichkeit – Schule Den Großteil, zwei Jahre, meiner Zeit als Schulassistent begleitete ich Lukas und Amal an einer Grundschule. Die Schule lag am Stadtrand. Neben Wohnhochhäusern gab es dort auch Einfamilienhäuser mit Garten. Es gab sowohl Akademikerfamilien, die die Randlage wegen der Nähe zum Stadtwald schätzten, als auch Familien, die es sich nicht aussuchen konnten und wegen der verhältnismäßig günstigen Mieten die Wohnhochhäuser bewohnten. Sehr unterschiedlich waren die Voraussetzungen, mit denen die Schüler*innen in die Schule kamen. Einige konnten bereits vor Schulbeginn den gesamten Schulstof f der ersten Klasse, andere konnten kaum Deutsch. Die Klas- sen bestanden aus über zwanzig Schüler*innen, die von jeweils eine*r Lehrer*in un- terrichtet wurden. Die vorherrschende Unterrichtsmethode war Frontalunterricht un- terbrochen von Stillarbeit und Wissensabfragen zum Zweck des Leistungsvergleichs (die Auf teilung auf unterschiedliche Schulformen nach der vierten Klasse stand schon am Horizont). Während die Akademikerkinder zumeist richtig zu antworten wuss- ten, und den Anderen als Vorbild anempfohlen wurden, erfuhren die meisten Anderen von Seiten der Schule die Abwertung, schwer von Begrif f zu sein. Während der mit- tels Frontalunterrichts und Notenvergabe organisierte Leistungsvergleich den meis- ten Akademikerkindern ermöglichte, Zutrauen in ihre Fähigkeiten und ein positives Verhältnis zum Lernen zu entwickeln, reagierten viele Andere, um ihren Selbstwert zu schützen, auf die Kränkung ihrerseits sehr früh schon mit Abwendung von Schul- dingen. Lukas und Amal, die beiden Schüler, denen meine Tätigkeit als Schulbegleiter galt, waren nicht die Einzigen, deren Bedürfnissen und Fähigkeiten der Unterricht nicht gerecht wurde. Nur war dies bei ihnen in besonders extremer Weise der Fall. Lukas und Amal war ein Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung diagnos- tiziert. Sie lernten langsamer als gleichaltrige Kinder. Mit zunehmender Schuldauer vergrößerte sich der Abstand ihres Wissensstandes zum Normallehrplan, nach dem die Klasse unterrichtet wurde. In der dritten Klasse, meinem letzten Schuljahr an der Schule, addierten sie im Zahlenbereich von eins bis zwanzig, während der Normal- lehrplan Multiplikation und Division im Zahlenbereich von hundert vorsah, lernten das Zusammenziehen von Silben zu Wörtern, während der Normallehrplan das Le- sen eines ersten Buches vorsah. Als Schulbegleiter Teilnahme am Normalunterricht zu ermöglichen, hätte unter diesen Umständen bedeutet, Lukas und Amal zum passiven Absitzen zu disziplinieren. Die Alternative bestand darin, mit den beiden jenseits der Klasse in Sonderräumen Sondermaterialien zu bearbeiten. Dies war die Praxis von Inklusion: An der Grundschule blieb es, wie es vermutlich schon vor dem Auf tauchen von Lukas und Amal und bevor sich die Schule Inklusion auf die Fahnen geschrieben hatte, gewesen war. Der Schulalltag von Lukas und Amal bestand als Parallelprogramm zum Normalunterricht. Es konstituierte sich das Frag- ment einer Sonderschule innerhalb der Normalschule. Lukas und Amal hatten ihre Sondermaterialien, ihren Sonderraum, ihren Schulbegleiter und ihre Förderlehre- rin. Zwar war der Charakter der Förderschule als Sonderinstitution mit isolierter So- 2 Beide Namen sind von der Redaktion zu Maskierungszwecken geändert worden. 66 Hus chke K leinteich zialwelt dadurch aufgebrochen, dass es partielle Teilnahme am Sozialleben des Nor- malschulalltags gab, Lukas und Amal die gleiche Schule besuchen konnten wie ihre Nachbar*innen. Im Vergleich zur Förderschule als Sonderinstitution erschien ihr Schulprogramm aber zugleich auch als Sparversion. Es e fi len weg: die bessere Perso - nal-, Raum- und Materialausstattung, die integrierten e Th rapieangebote, der Unter - richt innerhalb einer Klassengemeinschaf t. Was blieb, war die Erfahrung von Diskri- minierung. Zu wesentlich ging es um eine Konkurrenz, in der Lukas und Amal die Grunderfahrung machten, nach allen Leistungskriterien, die an der Schule zählten, die Schlechtesten zu sein oder mehr noch sogar außerhalb der Wertung zu rangieren, symbolisch bei der halbjährigen Zeugnisvergabe verdichtet, wo sie als Einzige keine Noten bekamen. Beharrungskraft der etablierten Schulpraxis als stummer Zwang Der Modus, in dem die an der Schule Tätigen diese Unterrichtsform reproduzierten, war das Durchwursteln. Alle mussten unter den bestehenden Bedingungen erst ein- mal klarkommen. Weniger war die Unterrichtspraxis von pädagogischen Konzepten geleitet. Vielmehr war sie bestimmt durch einige Faustregeln, die von den Erfahre- neren an die Neuanfangenden weitergegeben wurden: Methoden, die sich unter den Bedingungen einer Alleinverantwortung der Lehrer*in für die Groß-Klassen im Sin- ne eines funktionierenden Unterrichts praktisch bewährt hatten. Neben dem Frontal- unterricht war dies vor allem die Lehrer*innenüberlebensweisheit, man müsse »kon- sequent sein«. Gemeint war damit die konsequente Anwendung von Strafandrohung und Strafdurchsetzung, keine Schwäche zeigen, klarmachen, wer am längeren He- bel sitzt, Standpauken halten. Die Kernaufgabe der Lehrer*innen und Basis für al- les Weitere war für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Maßgeblich hing dementsprechend die Anerkennung im Lehrer*innenkollegium davon ab, wie gut jemand seine Klasse »im Grif f« hatte. An das strenge Lehrer*innenregiment herrschte Anpassungsdruck. Studentische Aushilfslehrer*innen, von denen wegen Personalmangels ein erhebli- cher Teil des Unterrichts getragen wurde und Referendar*innen, die es – inspiriert von neuerer pädagogischer e Th orie – vereinzelt anders versuchten, wirkten nicht als Quellen von Erneuerung, sondern galten den Etablierten nur als mahnende Beispiele, dass es nun einmal anders nicht geht. Und wirklich scheiterten sie meist auch an den Schüler*innen. Die Gewohnheit lehrte die Schüler*innen in den weniger autoritären Lehrer*innen nur Repräsentant*innen der Institution zu sehen, die Schwäche zeig- ten und an denen sich deshalb von dieser Institution produzierte Kränkung und Frust rächen ließen. Auch führte die an der Schule etablierte Unterrichtspraxis dazu, dass die Potenziale zur kollektiven Selbstorganisation unentwickelt blieben. Unter Abwe- senheit der Direktive einer autoritären Lehrerinstanz war das Klassenkollektiv meist nicht handlungsfähig. Immer dann, wenn diese Instanz unbesetzt blieb, brach Chaos aus. Lehrer*innen, deren Individualität oder Ausbildung sich an der etablierten Un- terrichtspraxis stießen, scheiterten so zumeist daran, eine innerhalb der gegebenen Bedingungen tragfähige Alternative zu entwickeln und wurden im Lehrer*innenkol- legium schnell als unfähig abgestempelt. Wer klarkommen wollte, musste sich anpas- sen, dies war die Kurzformel für die Beharrungskraf t der etablierten Praxis an der Grundschule. Ink lusions anspr uch und S chul wir k lichkeit 67 In Lukas und Amals Klasse sah dies so aus: Die Klassenlehrerin war von der Aufga- be absorbiert, Arbeitsatmosphäre aufrechtzuerhalten. An mich hatte sie vor allem die Erwartung, sie zu entlasten. Das hieß: Lukas und Amal sollten als zusätzliche Störfak- toren ihres Unterrichts still gestellt werden. Regelmäßige Arbeitsbesprechungen wa- ren in ihrer Arbeitszeit nicht vorgesehen. Die Koordination unserer Zusammenarbeit fand so immer nur in Nebenbei-Gesprächen statt, kurz vor Unterrichtsbeginn, wäh- rend der Pausenaufsicht oder in Stillarbeitsphasen der Klasse. Was wir dabei abspra- chen, war kaum mehr, als dass sie es mir überlasse, Lukas und Amal in oder außerhalb des Klassenraums zu beschäf tigen. Aus ihrer Sicht hinkten Lukas und Amal sowie- so so hof fnungslos weit hinter dem Normallehrplan her, dass es nicht unbedingt dar- auf ankäme, dass die Beiden in dieser Zeit etwas lernten. Hauptsache, sie störten ih- ren Unterricht nicht. Auch die Förderlehrerin, die zeitgleich mit mir angefangen und einige Stunden in der Klasse hatte, merkte schnell, dass ihr (förder-)pädagogischer Ansatz in den Normalunterricht nicht integrierbar war, schon weil es keine Zeit gab, für die Intensität von Absprache, die dafür nötig gewesen wäre. So entwickelte sie ein Sonderprogramm für Lukas und Amal, das die beiden zumeist auch in Sonderräu- men (wahlweise im Schulf lur oder -keller) unter meiner Aufsicht abarbeiten mussten. Dies war der Rahmen, innerhalb dessen sich meine Arbeit abspielte. Auch ich ver- suchte klarzukommen. Neben Überforderung, vielem Frust, der sich seitens Lukas und Amal of t als Verweigerung und Aggression entlud, neben immer wieder dem Ge- fühl krasser Sinnlosigkeit dabei Lukas und Amal in einer Schule zu begleiten, in der sie nur zu stören schienen, versuchte ich zusammen mit der Förderlehrerin und zusam- men mit Lukas und Amal doch auch das Beste aus der Situation zu machen. Nicht nur versuchten wir den Sonderraum so gut wie möglich zu gestalten. Es entwickelte sich auch Vertrauen zwischen der Klassenlehrerin, der Förderlehrerin, Lukas, Amal, ande- ren Schüler*innen und mir, was unsere Kooperation trotz fehlender Zeit zur Abspra- che verbesserte und partiell sogar eine Aufweichung der strikten Trennung von Klas- sen- und »Förder«-Unterricht ermöglichte. Nach dem ersten Schulhalbjahr erkrankten dann kurz nacheinander beide Lehrerinnen schwer und e fi len über Monate hinweg aus. Nach einigen Wochen studentischen Vertretungsunterrichts wechselte die Klas- senleitung. Eine Lehrerin, die im Schulkollegium als besonders bewährt galt, über- nahm. Weil es für die Förderlehrerin keine dauerhaf te Vertretung gab, wurde eine zweite Schulbegleiterin eingestellt. Ich konnte eine Freundin dafür gewinnen. Inmit- ten all der Umbrüche tat es gut, mit einer Vertrauten zusammen zu arbeiten. Vor allem ihrer Energie war es zu verdanken, dass es, trotz aller Widrigkeiten, weiterhin auch Gelingendes gab und Lukas und Amal Lernfortschritte machten. Der Ausschluss aber verstärkte sich unter der neuen Klassenlehrerin noch. Unsere Vorschläge für mehr Teilhabe am Klassenunterricht prallten größtenteils an ihr ab. Selbst so vorsichtige und wenig weitreichende Versuche, wie der einer Sitzordnung mit Gruppentischen, die gegenseitige Hilfe der Schüler*innen ermöglichen sollte, wurden schon nach ei- ner Woche von Seiten der neuen Klassenlehrer*in wieder abgebrochen, mit dem Argu- ment, es würde dadurch zu viel Unruhe in die Klasse gebracht. Die neue Klassenlehrerin war dabei keine erklärte Gegnerin von Inklusion. Über- haupt niemand bestritt das Recht von Lukas und Amal an der Schule zu sein. Die Lo- gik, nach der sie und auch die meisten anderen Lehrer*innen der Schule handelten, war die des Selbsterhalts ihrer gewohnten Praxis. Sie berief sich auf ihre Erfahrung, 68 Hus chke K leinteich ihre Verantwortung für die Klasse, sie müsse den Laden am Laufen halten und kön- ne sich keine Experimente leisten. Die Inklusionsnorm wurde von ihr nicht of fen ab- gelehnt, sondern konservativ uminterpretiert. Ihr Kriterium für gelungene Inklusion war ein möglichst reibungsloses Nebeneinander von Normallehrplan und Sonderpro- gramm für Lukas und Amal. Dazu gehörte auch, dass sie Lukas und Amal hin und wieder in die Klasse zitierte und sie in die Wissensabfrage ihres Frontalunterrichts einbezog. Während sie dabei mit jede*r Schüler*in hart ins Gericht ging, die die an sie gestellte Aufgabe nicht zu lösen wusste, verhalf sie Lukas und Amal mit einer Mi- schung aus Geduld und Souf f lage zu den richtigen Antworten auf ihre viel leichteren Aufgaben und belobigte sie dafür überschwänglich vor der ganzen Klasse. Während es für die Klassenlehrerin selbstverständlich war, dass Lukas und Amal große Teile des Unterrichts außerhalb des Klassenraums verbringen mussten, straf te sie alle Schü- ler*innen ab, die die Ungleichbehandlung thematisierten – das Wort »behindert« war Tabu. Die Praxis der Absonderung wurde von sprachlicher Antidiskriminierung über - blendet und blieb so stumm. Der Verein, für den ich arbeitete, blieb in dieser Schulpraxis abwesend. Regel- mäßige Arbeitsbesprechungen, die es in meiner Anfangszeit noch gab, wurden aus- gesetzt. Die Sozialpädagogin, die von Vereinsseite als Koordinatorin für die Schule zuständig war, antwortete, wenn sie überhaupt ausnahmsweise einmal für mich er- reichbar war, wegen zu vieler anderer Arbeit nur mit Vertröstungen auf meinen Ge- sprächsbedarf. Wie kam das? II Strukturprobleme der freien Trägerschaft Anspruch und Wirklichkeit: Insolvenz des Vereins Der Schulassistenzträger war aus der Behindertenbewegung hervorgegangen. Er wurde in den 1970er Jahren von Menschen mit Behinderung als Verein gegründet. Zu - nächst ging es vor allem um die Organisation einer selbstbestimmten Pf lege. Über den Verein wurden persönliche Assistenzen organisiert. Sie sollten Menschen mit Behin- derung, trotz Pf legebedürf tigkeit ein eigenständiges Wohnen und selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Die selbstorganisierten Assistenzen sollten mit dem Paternalis- mus der zuvor bestehenden Pf legeeinrichtungen brechen. Auch darüber hinaus enga- gierte sich der Verein für die Rechte von Menschen mit Behinderung und setzte sich stadtpolitisch für Teilhabe ein. Es war naheliegend, dass der Verein dann auch die Or - ganisation von Schulbegleitungen übernahm, als diese zunehmend gebraucht wurden. Als ich anfing, hatte der Verein im Schulbereich mehr als hundert Mitarbeiter*innen. Die Geschichte war noch gegenwärtig im Leitbild des Vereins. In den Fortbildungen und von Seiten der beim Verein angestellten Sozialpädagog*innen wurde das Konzept einer auf Selbstbestimmung und Teilhabe zielenden Schulassistenz vermittelt. Geschichtliche Verdienste hatte der Verein nicht nur im Einsatz für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Auch darin, dass er die Schulbegleiter*innen und persönlichen Assistent*innen auf der Grundlage eines Tarifvertrages anstellte, war der Verein Avantgarde. Vorausgegangen war ein Arbeitskampf, den die Mitarbei- ter*innen des Vereins zu Beginn der 2010er Jahre erfolgreich geführt hatten. Vor dem Ink lusions anspr uch und S chul wir k lichkeit 69 Arbeitskampf lagen die Löhne für die Assistent*innen auf einem Niveau, das kaum zum Leben reichte. Viele Mitarbeiter*innen mussten beim Jobcenter aufstocken. Als ich 2016 anfing, war der Verein aber auch schon sehr deutlich in eine Phase der Gefährdung dieser Errungenschaf ten eingetreten. Grund hierfür war eine ökonomi- sche Misere. Der Verein hatte es nach Inkraf ttreten des Tarifvertrages nicht mehr ge- schaf f t, wirtschaf tlich zu arbeiten. Die Geschäf tsführung meldete Eigen-Insolvenz an. Während meiner gesamten Zeit als Mitarbeiter war die Betriebspolitik von Sanie- rungsmaßnahmen bestimmt. In meinen ersten Jahren wurde eine Unternehmensbe- ratung angeheuert. Die Unternehmensberatung analysierte die Betriebswirtschaf t, um dann einen konkreten Vorschlag machen zu können für die Anwendung des Sche- mas: Sanierung auf Kosten der Arbeitsbedingungen der Basismitarbeiter*innen. Über die Unternehmensberatung wurde eine Instanz der neutralen Expertise konstruiert, ihr Sanierungs-Vorschlag (Flexibilisierung der Arbeitszeiten) konnte sich den An- schein sachlicher Notwendigkeit geben. Von Seiten der Geschäf tsführung wurde der Vorschlag so als alternativloses Opfer zum Zweck der Rettung des Ganzen inszeniert. Die gewerkschaf tliche Liste im Betriebsrat, die weiterhin auf einem Erhalt der Ar- beitsbedingungen bestand, wurde als dogmatische Vertreterin egoistischer Partiku- larinteressen hingestellt und überstimmt. Damit war eine erste Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durchgesetzt. Dennoch folgte kurze Zeit später der Verkauf des Betriebs. Zur Übernahme stan- den zwei Interessenten bereit. Ein Altneustädter Träger, der aus der Selbstorganisa- tion von Eltern behinderter Kinder hervorgegangen war und ein in Herbstingen an- sässiges, aber deutschlandweit operierendes, Pf legegroßunternehmen. Den Zuschlag erhielt das Großunternehmen. Die Mitarbeiter*innen wurden lediglich informiert, dem Betriebsrat kam in den Verhandlungen nur eine Beobachterrolle zu, die Ent- scheidungsmacht lag beim Gläubigerausschuss. Hauptgrund der Entscheidung war ein ökonomischer. Das Herbstinger Unternehmen bot an, den Betrieb schon vor den Sommerferien 2019 zu übernehmen, damit auch die Verluste, die in den Wochen ohne laufenden Schulbetrieb eingefahren werden, aus eigenen Mitteln zu tragen. Dem Alt- neustädter Träger fehlte hierzu schlicht das Kapital. Verkauf t wurde die Entscheidung aber idealistisch. Die Geschäf tsführung, für die die Entscheidung nebenbei auch be- deutete, dass sie, anders als bei Übernahme durch den Altneustädter Träger, im Amt bleiben konnte, verkündete: Mit dem Herbstinger Großunternehmen sei die Entschei- dung für jenen Interessenten gefallen, der Idealen und Geschichte des Vereins einfach näherstünde als der Altneustädter Träger. Tatsächlich wurden Name und Selbstverständnis des Vereins auf dem Papier bei- behalten. Auch eine Mitarbeiter*innenversammlung, auf der der Geschäf tsführer des Herbstinger Unternehmens warme Worte für die Belegschaf t fand und eine Übernah- meparty mit opulentem Gratis-Buf fet übertünchten die Linie der neuen Betriebspoli- tik. Gefahren wurde ein einzig an Rentabilität orientierter Kurs. Nicht nur bedeutete dieser Kurs die Einsparung des Fortbildungsprogramms und Reduktion der Arbeits- besprechungen, sondern auch massive Angrif fe auf die tarif lichen Arbeitsbedingun- gen der Basismitarbeiter*innen. Als die erste neue Assistent*in eingestellt wurde, soll- te sie nicht nach geltendem Tarif lohn bezahlt werden, sondern einen Arbeitsvertrag zu schlechteren Bedingungen unterschreiben. Diesem Vorgehen verweigerte der Be- 3 Deutsche Großstadt, Name von der Redaktion geändert. 70 Hus chke K leinteich triebsrat seine Zustimmung. Darauf hin machte die Herbstinger Unternehmenslei- tung in aller Deutlichkeit klar, dass die Schlechterstellung der neuen Mitarbeiter*in- nen für sie nicht verhandelbar war. In Reaktion auf den Widerstand des Betriebsrats, gründete sie einen zweiten Assistenzträger in Altneustadt, einen scheinunabhängigen Betrieb, der den einzigen Zweck hatte, Mitarbeiter*innen jenseits einer Tarif bindung und jenseits betrieblicher Mitbestimmung einstellen zu können. Als kurz nach der Übernahme in der Pf legeabteilung die arbeitgebernahe Liste die Neuwahlen zum Betriebsrat gewann, wurden im Pf legebereich alte und neue Mitar- beiter*innen wieder in einem Betrieb zusammengeführt. Dank des wunschgemäßen Wahlergebnisses konnte die Geschäf tsführung nun dort in Kooperation mit dem neu- en Betriebsrat die Arbeitsbedingungen nach Belieben verschlechtern. In der Schulabteilung hingegen errang die Gewerkschaf tsliste die Mehrheit der Betriebsratssitze. Hier bestand die Strategie der Geschäf tsführung fortan darin, die Betriebsstruktur nach und nach in den scheinunabhängigen Träger ohne Betriebsrat und ohne Tarifvertrag zu überführen, dadurch den von der gewerkschaf tlichen Lis- te geführten Betriebsrat zu entmachten. Ein Einstellungsstopp wurde verhängt, neue oder durch den Abgang bestehender Mitarbeiter*innen freiwerdende Schulbegleitun- gen wurden nur noch über den Scheinbetrieb besetzt. Auf forderungen seitens der Ge- werkschaf t einen neuen Tarifvertrag zu verhandeln, werden bis heute von der Unter- nehmensleitung ignoriert. Die Anzahl der Bestandsmitarbeiter*innen, deren Verträge noch tarifgebunden waren und deren Interessen durch den gewerkschaf tlichen Betriebsrat vertreten wer- den konnten, wurde so permanent reduziert. Durch den Tarifvertrag und den Be- triebsrat waren der Sparpolitik bezogen auf diese Bestandsmitarbeiter*innen zwar Grenzen gesetzt. Dennoch setzte die Geschäf tsführung nicht nur darauf, den alten Betrieb langsam ausbluten zu lassen, sondern auch die Bestandsmitarbeiter*innen so kostengünstig wie möglich zu verwalten. Mit immer wieder neuen Maßnahmen ver- suchte die Geschäf tsführung den Mitarbeiter*innenbestand zu Lasten der Arbeitsbe- dingungen rentabler zu machen. 4 Im Folgenden eine unvollständige Chronik dieser Maßnahmen: Nach einem halben Jahr, im De- zember 2019, wurde allen bestehenden Mitarbeiter*innen die Jahressonderzahlung ver weigert, gleiches wiederholte sich im Dezember des folgenden Jahres. Dies war zwar rechtswidrig. Um den Rechtsbruch zu sanktionieren und die Auszahlung zu erzwingen, musste der Rechtsanspruch auf die Jahressonderzahlung aber von den Mitarbeiter*innen individuell geltend gemacht und angezeig t werden. Von Seiten der Unternehmensführung wurde darauf spekuliert, dass schon genügend Mit- arbeiter*innen die Frist dafür verpassen oder den Gang zum Gericht scheuen würden. Als im Frühjahr 2020 dann die Corona-Pandemie Deutschland erreichte und die Lockdown-Politik eine monatelange Schulschließung zur Folge hatte, versuchte die Geschäf tsführung, die Mitarbeiter*innenlöhne auf 60/67  % (Kurzarbeit) abzusenken, obwohl dies für einen Großteil der Mitarbeiter*innen bedeutet hätte unters Existenzminimum zu fallen. Gleichzeitig versuchte die Geschäf tsführung am Betriebsrat und den an diesen Schulen arbeitenden Mitarbeiter*innen vorbei die vier Schulen, mit dem größten Bestand an Schulbegleitungen, dem neuen Scheinbetrieb zuzuschanzen. Vom alten Schuljahr 19/20 zum neuen Schuljahr 20/21 sollten die bestehenden Einsätze an diesen Schulen den Träger wechseln. Kalkuliert war dies vor allem als Maßnahme, um die Anzahl der Bestandsmitarbeiter*innen weiter zu reduzieren. Die Schulbegleiter*innen in diesen Einsätzen sollten vor die Wahl gestellt werden, ent- weder den Träger wechsel und damit schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren oder aber die Schule, wo sie zumeist lang jährig gearbeitet hatten und die Schüler*in, die ihnen vertraut war, zu ver - lassen. Ink lusions anspr uch und S chul wir k lichkeit 71 Einige dieser Maßnahmen konnten durch Protest des Betriebsrats und der Beleg- schaf t verhindert oder abgemildert werden. Die Grundrichtung der neuen Betriebs- politik aber blieb ungebrochen: die gegenüber den Arbeitsbedingungen und der Qua- lität der Arbeit rücksichtslose Durchsetzung von ökonomischer Rentabilität. All dies unter Beibehaltung von Namen und Selbstverständnis des Vereins. Anspruchsverkehrung – freie Trägerschaft als Outsourcing Die freie Trägerschaf t erschwerte die Konf liktaustragung. Sie wurde von Seiten der Geschäf tsführung und der zuständigen Stadtpolitiker*innen zur gegenseitigen Ver- antwortungsabgabe instrumentalisiert. In den innerbetrieblichen Verhandlungen mit dem Betriebsrat verwies die Geschäf tsführung auf die unzureichenden Mittel von Sei- ten der Stadt, die eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen betriebswirtschaf t- lich erzwingen würden. Sprachen wir als Vertreter*innen der Belegschaf t in der Bürger*innensprechstunde des Sozialausschusses vor, versicherte uns die CDU-Sozi- aldezernentin, dass der Tarifvertrag von Seiten der Stadt ausreichend refinanziert sei und die freie Trägerschaf t eine städtische Einmischung in innerbetriebliche Angele- genheiten verbiete. Hintergründig blieb das ökonomische Interesse daran, den städtischen Haushalts- posten für die Schulbegleitung nicht vergrößern zu wollen. Die städtischen Gelder waren nach dem erfolgreichen Arbeitskampf und dem Abschluss des Tarifvertrages erhöht worden. Dass damit das Limit dessen erreicht war, was die verantwortlichen Stadtpolitiker*innen an Geld für die Schulbegleitung zur Verfügung stellen wollten, zeigte sich schon im stadtpolitischen Umgang mit der Insolvenz. Ihrem Zustandekommen ging voraus, dass die Geschäf tsführung zunächst die volle Auszahlung der vereinbarten Tarif löhne verweigerte. Als sich einige Gewerk- schaf tsmitglieder unter den Mitarbeiter*innen darauf hin die ihnen zustehenden Löhne einklagten, meldete der Verein wegen Zahlungsunfähigkeit Eigen-Insolvenz an. Mit der Insolvenz des Vereins wurde der Konf likt um die Arbeitsbedingungen der Schulbegleitung depolitisiert. Statt eine öf fentliche und für die Belegschaf t transpa- rente Untersuchung über ein eventuelles Missmanagement, den Verbleib und die An- gemessenheit der städtischen Gelder anzuordnen, überließen es die verantwortlichen Stadtpolitiker*innen der Geschäf tsführung des Vereins, einen Sanierungsplan zu entwickeln. Damit war die Stadt aus dem Schneider. Die wirtschaf tlichen Probleme des Vereins wurden in diesem Rahmen rein betriebswirtschaf tlich angegangen. Die Zielstellung des Sanierungsplans war die Wirtschaf tlichkeit des Vereins unter beste- henden Bedingungen. Eine Erhöhung der Finanzen von Seiten der Stadt stand nicht mehr zur Debatte. Gleichzeitig sprang die Arbeitsagentur ein, um die Auszahlung des nun einge- klagten Tarifvertrags an die Mitarbeiter*innen zu gewährleisten. Sie war damit der größte Gläubiger im Gläubigerausschuss. Das heißt die Stimme der Arbeitsagentur, einer öf fentlichen Institution, hatte bei der Entscheidung für die Übernahme durch den Herbstinger Pf legekonzern das größte Gewicht. Politische Kriterien stärker zu gewichten als ökonomische, sogar die gewerkschaf tlich geforderte Übernahme des Vereins in den städtischen Eigenbetrieb wären also durchaus möglich gewesen. Dass davon kein Gebrauch gemacht wurde, wurde von Seiten der verantwortlichen Stadt- politiker*innen als glückliche Fügung inszeniert: Ökonomisches (Übernahme schon 72 Hus chke K leinteich vor den Sommerferien) und politisches (ideelle Nähe zur Tradition des Vereins) Inter- esse würden in der Entscheidung für den Herbstinger Pf legekonzern zusammenfal- len. Auch wenn es seitens des Herbstinger Pf legekonzerns das vage Versprechen gab, die tarif lichen Arbeitsbedingungen beizubehalten, so war mit Blick auf die Konzern- praxis andernorts – der Pf legekonzern operierte an all seinen anderen Standorten ohne Tarifvertrag – doch absehbar, dass sich dies als Lüge erweisen würde. Dass die verantwortlichen Stadtpolitiker*innen nicht nur dennoch die Übernahme durch das Herbstinger Unternehmen zuließen, sondern der Konzern bis heute für seine Umge- hung der tarif lichen Arbeitsbedingungen nicht sanktioniert wurde, zeigt, dass für die Stadtregierung trotz ihres of fiziellen Bekenntnisses zu Inklusion und Tarif treue, das Ziel der Kosteneinsparung vorrangig ist. Ihre Politik deutet auf eine unausgespro- chene Komplizenschaf t hin, die darin liegt, dass die gegenüber Arbeitsbedingungen und Qualität der Schulbegleitung rücksichtslose Konzerngeschäf tsführung die Stadt- regierung zugleich davor bewahrt, den entsprechenden Haushaltsposten zu vergrö- ßern. Dass der Verein dem Namen nach fortbesteht, tatsächlich aber von einem Groß- unternehmen ohne realen Bezug zur Vereinsgeschichte und ohne Verankerung in der städtischen Zivilgesellschaf t betrieben wird, hat den Ef fekt einer Verschleierung. Die Beibehaltung des Vereinsnamens kaschiert gleichermaßen das Prot fi interesse des Herbstinger Pf legekonzerns wie die städtische Sparpolitik. Schon die alte Geschäf tsführung des Vereins suchte nicht den Schulterschluss mit der Belegschaf t und ihrem Kampf für bessere Arbeitsbedingungen. Eine Rolle spiel- te dabei sicherlich auch, dass der Verein sich innerhalb einer Konkurrenz mit anderen freien Trägern bewähren musste, wozu eben auch gehörte, der Stadt möglichst kos- tengünstige Angebote der Schulbegleitung zu machen. Auch dürf te das Handeln der Geschäf tsführung dadurch motiviert gewesen sein, die stadtpolitische Mehrheitsfä- higkeit des Projekts der schulischen Inklusion, die immer wieder durch das Argument der Kosteneinsparung gegenüber dem Förderschulwesen gesichert wird, nicht durch das Einfordern von mehr öf fentlichem Geld zu gefährden. Auch diese Strukturprobleme trugen dazu bei, dass sich der ideelle Anspruch der freien Trägerschaf t im Falle des Altneustädter Vereins in sein Gegenteil verkehrte. Spätestens mit der Übernahme durch den Herbstinger Pf legekonzern wirkt der Ver- ein nicht mehr als zivilgesellschaf tliche Kontrollinstanz einer inklusiven Schulent- wicklung, sondern hat sich umgekehrt an die Funktionserfordernisse des Status quo im Sinne einer möglichst systemkonformen und kostengünstigen Schulbegleitung angepasst. III Politisierung Wie könnte es anders gehen: initiative kritische schulassistenz Wie rauskommen aus dieser verkehrten Welt der freien Trägerschaf t? Wie die indivi- duelle Ohnmacht gegenüber dem Konservatismus der Schulpraxis überwinden? Diese Fragen standen am Anfang der Gründung der init iat ive kr it ische schulassistenz. Mit ihr versuchten einige Kolleg*innen und ich die Grenzen, an die wir als Schulbegleiter*in- nen und Betriebsrät*innen in der Praxis stießen, zu politisieren. Ink lusions anspr uch und S chul wir k lichkeit 73 Derzeit ist die Initiative zunächst einmal ein Forum des of fenen Erfahrungsaus- tausches und soll damit einen Ausweg aus der Vereinzelung im Schulalltag ermögli- chen. Perspektivisch wollen wir mit der Initiative als Schulbegleiter*innen politisch handlungsfähig werden. Unsere wichtigsten e Th men dabei sind die trägerübergrei - fende Durchsetzung tarif licher Arbeitsbedingungen und die konzeptuelle Weiterent- wicklung der Schulbegleitung. Für die Durchsetzung tarif licher Arbeitsbedingungen scheint uns eine stärkere politische Regulierung der freien Trägerschaf t wichtig. Es bräuchte politische Zulas- sungsbedingungen, die verhindern, dass die freie Trägerschaf t zum Einfallstor prot fi - orientierter Sozialunternehmen wird. Zudem sollte es eine staatliche Kontrollinstanz geben, die die Einhaltung tarif licher Arbeitsbedingungen kontrolliert und sanktio- niert. Für ihre konzeptuelle Weiterentwicklung scheint es uns entscheidend, dass die Schulbegleitung nicht mehr einfach nur »Lückenbüßerin« ist – Mittel, um die Lücke billig zu kaschieren, die klaf f t zwischen Inklusionsnorm und bestehendem Schulsys- tem, zwischen Bedürfnissen (nicht nur) der Schüler*innen mit Behinderung und be- stehender Unterrichtspraxis, zwischen Ressourcenbedarf inklusiver Pädagogiken und bestehender Ressourcenausstattung der Regelschule. Neben einer erheblich verbesserten Ressourcenausstattung wäre es vor unseren Erfahrungshintergründen ein wichtiges Nahziel, andere Formen von Kooperation an den Schulen zu etablieren. Gebrochen werden müsste das Einzelkämpfertum. Ge- schaf fen werden und in den Schulalltag integriert sein sollten Kommunikationsräu- me, in denen unter Beteiligung aller an der Schule Tätigen eine kritische Ref lexion der eigenen Praxis ermöglicht wird. Auf diese Weise könnten die Grenzen, an die eine be- dürfnisgerechte Pädagogik im bestehenden Schulsystem stößt, zur Sprache gebracht werden, statt nur als stummer Zwang auf die Einzelnen zu wirken. Dies wäre Vorbe- dingung für eine Schulbegleitung, die nicht Ersatz, sondern Bestandteil der gemein- samen Arbeit an einer anderen Schule sein soll. Der Autor ist Gründungsmitglied der init iat ive kr it ische schulassistenz.

Journal

Außeruniversitäre Aktion. Wissenschaft und Gesellschaft im Gesprächde Gruyter

Published: Apr 1, 2022

There are no references for this article.